Die schlesische Tischlerstadt Festenberg

Von Franz Thomale

Abb. 39
Siegel der Stadt Festenberg
Ich freue mich, über meine Heimatstadt schreiben zu dürfen. Wie oft schon habe ich ihr Liebeserklärungen gemacht, damals... und später in der Fremde. Ich brauchte sie nur niederzuschreiben. Doch da stutze ich: eine Liebeserklärung in aller öffentlichkeit? Nein, dieses innige Gefühl sollte man nicht vor anderen ausbreiten. Könnten manche nicht sagen: eine Liebeserklärung von su eenem aalen Simmel? Außerdem könnte Poetisches deplaziert wirken neben den seriösen Beiträgen dieses Buches, in dem von Grundsteuerertragssätzen, Grenzziehung, Gutsherrschaften und historischen Daten die Rede ist. Da stutze ich zum zweiten Male: also müßte ich in gleicher Weise von Festenberg berichten? In diesem Dilemma hilft mir eine Beobachtung aus letzter Zeit.
Viele Landsleute haben die Möglichkeit genutzt, die alte Heimat zu besuchen. Nach ihrer Rückkehr sind in ihren Berichten Ernüchterung und Enttäuschung unüberhörbar. Sie beziehen sich nicht nur auf gewisse Verfallserscheinungen in der Heimat. Die Enttäuschung sitzt tiefer. Sie birgt die schmerzliche, aber - wie ich glaube - heilsame Erkenntnis, daß zur Heimat sicher Baum und Strauch, Wald und Wiese, Feld und Acker, Stadt und Dorf gehören, aber mehr noch die Menschen, mit denen wir uns freuten und mit denen wir litten, mit denen wir arbeiteten und lebten. Sie alle sind weit weg in der Zerstreuung ... doch die Menschen, die jetzt in unserer alten Heimat leben, sie sprechen eine andere, eine fremde Sprache.
Deswegen möchte ich vor allem von Festenbergs Menschen plaudern, Jenen fleißigen, manchmal derben, oft auch skurilen, immer aber liebenswerten Mitbürgern. Das muß zwangsweise ein sehr persönliches Bild ergeben, doch hoffe ich, daß die Grundfarben für alle erkennbar sind.
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Festenberg i. Schles. Totalansicht
Ein unvergessener Anblick
Für mich als Schüler eines Breslauer Gymnasiums war der Sonnabend der schönste Tag der Woche. Schon am Freitag überprüfte ich mein Fahrrad, damit ich am Sonnabend gleich nach Schulschluß nach Festenberg fahren konnte. Was zog mich eigentlich so stark nach dort? Hauptsächlich natürlich meine Mutter, die am Oberring ein Lebensmittelgeschäft betrieb, (der Vater war 1918 im Lazarett Trebnitz verstorben) und meine Geschwister, Haus und Garten. Aber sonst? Schwimmen konnte ich auch zwischen den Buhnen der Oder ... aber der Stauweiher in Festenberg war viel, viel schöner. Außerdem gab es in Breslau keinen Reisner-Koarle, der immer fröhlich und zu Späßen aufgelegt die Badeanstalt betreute. Und im Winter? Natürlich konnte ich auf dem See in Breslau-Leerbeutel schlittschuhlaufen, aber das Eis des Stauweihers war grüner und das Eis des Mühlenteichs am Judenberg knackte gefährlicher ...
So zog es mich Wochenende für Wochenende nach Festenberg. Vor seinen Anblick aber hatten die Götter den Schweiß gesetzt, denn die rund 60 Kilometer wollten erst mal abgestrampelt werden. Wenn ich Hundsfeld und Sibyllenort, in dessen Schloß der letzte König von Sachsen lebte, passiert hatte, begann mich eine gewisse Beklemmung zu befallen, dann mußte der einsame, etwa 15 Kilometer lange Lakumer Wald durchfahren werden. Das ist immer gut gegangen, nur einmal, da radelte ich um mein Leben. In der Nähe von Juliusburg lauerten zwei junge Kerle, einer mit Fahrrad, der andere ohne. "Gib deine Karre her", brüllten sie. Ich aber trat in die Pedale. Hinter mir hörte ich den Verfolger keuchen. Es dauerte lange, bis ich ihn abschütteln konnte. Später hörte ich, daß die beiden aus der Fürsorgeanstalt in Juliusburg ausgebrochen waren.
Dann aber kam Groß-Graben und bald kreuzte ich kurz vor Festenberg die Bahnlinie. Vor mir lag die Silhouette von Festenberg, noch schöner anzusehen von den Eulenbergen. Von hier hatte man bei gutem Wetter einen herrlichen Weitblick. Die fünf Türme von Oels waren zu erkennen, der Kirchturm von Tscheschen, die Wälder von Kuhbrück und Lahse und die bewaldeten Höhen von Kraschnitz.
Inmitten dieser riesigen Mulde, deren Ränder fast lückenlos von dunklen Wäldern bestanden sind, liegt Festenberg, die Stadt der Tischler. Seine Lage hat für mich so etwas wie Symbolcharakter: dort der Wald mit seinem Reichtum der verschiedenen Hölzer und hier die fleißigen Menschen, die den wohl schönsten Werkstoff kunstvoll verarbeiten. Sicher, es gibt wertvollere Stoffe, aber gibt es einen lebendigeren? Nicht ohne Grund sagt der Tischler vom Holz "es arbeitet", womit seine Veränderungen durch Austrocknen usw. gemeint sind.
"Ein Bild sagt mehr als tausend Worte ..." Gelegentlich sah man Versuche, mit Tuschpinsel oder Zeichenstift das Bild des Städtchens einzufangen, das eigentfich gar nichts Besonderes bot. Wer es aber liebte, dem haben sich seine Konturen tief ins Bewußtsein gegraben, wenn der Blick dem weißen Band der von Sandraschütz kommenden Straße folgte, die Häuser der neuen Siedlung und den kleinen Bahnhof übersprang und an den Türmen der beiden Kirchen haften blieb, der großen evangelischen und der viel kleineren katholischen. Besonders anheimelnd war, daß die beiden Kirchtürme nicht aus der Nüchternheit von Hausdächern emporragten, sondern aus einem dichten Kranz alter Linden. - Weiter links erkannte man an der Straße nach Groß-Graben die kleinen Häuser der Stadtrandsiedlung, von den Festenbergern etwas respektlos "Negersiedlung" genannt. Wenn von dort aus der Blick einen großen Halbkreis nach rechts beschrieb, konnte man an bestimmten Baumgruppen die beiden Friedhöfe erahnen, den Judenberg sehen und auf einer kleinen Anhöhe hinter dem Stauweiher die neue evangelische Schule und die Landwirtschaftsschule. Rechts im Vordergrund ragte der Schornstein der Holzindustrie in den Himmel und dahinter jener der Ziegelei.
Es war ein langer Weg, bis sich Festenberg zu dem entwickelt hat, wie es jetzt vor uns liegt. Werfen wir daher einen Blick in seine frühe Geschichte. In diesem Jahr (1974) feiern einige Städte der Bundesrepublik ihr vielhundertjähriges Bestehen, so die Stadt Siegen ihre 750-Jahr-Feier. Als ich diese Nachricht las, kam mir ein verblüffender Gedanke: wie wäre es wohl gewesen, hätte Festenberg eine normale Entwicklung gehabt und wären Krieg und Vertreibung nur ein böser Traum gewesen, dann hätten wir zu Hause im vergangenen Jahr das 680jährige Bestehen Festenbergs feiern können, denn es wurde im Jahre 1293 gegründet. Natürlich hätte die Festveranstaltung im Schützenhaus stattgefunden. Auf der Rückwand der blumengeschmückten Bühne das Wappen Festenbergs, vielleicht die Intarsienarbeit eines Festenberger Tischlers: drei wuchtige Türme, im mittleren ein Tor, darüber ein Engelskopf mit zwei Flügeln. Wie schon oft, wird die Frage nach der Bedeutung des Engels von einigen im Saal erörtert. Es wird wohl bei Vermutungen bleiben. - Der Männergesangverein Liederkranz betritt die Bühne und schmettert sein Begrüßungslied in den Saal. Dann besteigt ein Geschichtsprofessor aus Breslau das Podium, um die Festansprache zu halten. Zunächst erweist er den Festenbergern seine Referenz, indem er ihnen sagt, daß der Name ihrer Stadt einmalig ist in Deutschland. Nur in der Nähe von Clausthal-Zellerfeld im Oberharz gäbe es ein kleines Bergdorf, das aber Festenburg hieße. Nun beginnt er mit der geschichtlichen Entwicklung Festenbergs seit seiner Gründung im Jahre 1293, als Herzog Heinrich III. von Glogau an Rumpert von Bedesin und Heinrich von Szavon für eine Mark Goldes die Befugnis verlieh, die Stadt nach teutonischem Recht zu erbauen. Es folgt eine ermüdende Aufzählung von Herzögen und Grundherren, die Festenberg kaufen oder erben und wieder verkaufen. Doch was sind schon Namen? Nur wenige Interessierte im Saal hören noch zu, die meisten schauen auf die Fahnen der Vereinsabordnungen, die an den Saalseiten Aufstellung genommen haben.
Plötzlich aber hört man wieder hin, als der Name Eleonore Charlotte, Herzogin von Württemberg Oels, fällt. Aus dem Geschichtsunterricht weiß man noch, daß diese Frau ein besonders gutes Verhältnis zu Festenberg hatte. Im Jahre 1676 kaufte sie Festenberg von Sigismund von Köckritz. Zur Herrschaft Festenberg gehörten damals noch die Güter Olschofke, Althammer, Neudorf, Sackrau, Brustawe, Linsen und Muschlitz. Eleonore Charlotte verhalf Festenberg zu einer ersten Blütezeit. Sie siedelte Bauern und Handwerker an, ließ
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Festenberg. Stauanlage mit Landwirtschaftsschule (rechts) und ev. Volksschule (links)
für sie Häuser bauen, legte einen neuen Markt an (den späteren ' Oberring) und erwirkte beim Kaiser für die Festenberger einen Erlaß der Steuern für hundert Jahre! Von 1688 bis 1690 erbaute sie auf eigene Kosten die Pfarrkirche zum Kripplein Christi am Ring. Leider mußte Eleonore im Jahre 1712 die Stadt Festenberg an die verwitwete Herzogin zu Bernstein abtreten, die kaum Interesse an Festenberg zeigte. Wofür Eleonore jedoch den Grund gelegt hatte, das blühte auf, besonders die Tuchmacherzunft. An dieser Stelle beendete der Professor seinen Vortrag, denn über die Entwicklung der Tuchmacher und der Tischler sollte am zweiten Tage der Feierlichkeiten in einem eigens hierfür errichteten Freilichtkino der Bevölkerung ein Dokumentarfilm gezeigt werden ...
So hätte es sein können. Doch das Schicksal hat es anders gewollt. Mühsam mußten nach der Vertreibung die Fakten und Daten der Entwicklung zusammengetragen werden. ältere Festenberger wurden befragt, Sachkenner schrieben darüber im Groß Wartenberger Heimatblatt, dem dadurch eine wichtige Aufgabe zufiel. Vieles stammt von meinem Onkel, Tischlermeister Robert Thomale. Er hatte einen ausgeprägten Sinn für geschichtlich Gewachsenes, verbunden mit einem erstaunlich guten Gedächtnis noch in hohem Alter. Lange bevor man pflichtgemäß seine arische Großmutter suchen mußte, hatte er bereits die Herkunft unserer Sippe erforscht und festgestellt, daß unsere Vorfahren schon vor dem Dreißigjährigen Kriege vom Schwarzwald nach Schlesien ausgewandert waren und seitdem in den Kirchenbüchern Oberschlesiens und Mittelschlesiens genannt werden. Beruflich hatten sie alle in irgendeiner Weise mit Holz zu tun. Sie waren Waldarbeiter, Stellmacher, Wagner, Bildhauer und Tischler.
Doch genug der Geschichte, machen wir zunächst einen Gang durch das vertraute Städtchen und erinnern wir uns ...
Von den Eulenbergen gehen wir die Sandraschützer Straße hinunter zum Bahnhof. Wieviel Wiedersehensfreude und Abschiedsschmerz mag er erlebt haben, obwohl er noch gar nicht so alt ist, denn die Bahnstrecke Groß-Graben-Neumittelwalde ist erst 1908 gebaut worden. Bis dahin konnten die Festenberger nur in Groß-Graben Züge erreichen. Der Bahnspediteur Carl Hain (später Hugo Schwerin und Max Weber) hatte mit vier Pferden bespannte Omnibusse, mit denen der Personenverkehr bewältigt wurde.
Schillheim, Krause-Becker, Bayer und Leowski fuhren nachts mit ihren Wagen Güter nach Breslau. Auf halbem Wege, nach 30 Kilometern, wurden die Pferde ausgespannt und eine Stunde lang abgefüttert. -Den Postdienst führte der Wagenbauer Karl Hilbig durch. Sein Postwagen war einspännig. Postillon war ein gedienter Kavallerist, der gekonnt und kräftig das Hornsignal schmetterte.
Im 1. Weltkrieg war neben dem Bahnhof eine Baracke mit gefangenen Russen, etwa 20 Mann. Sie konnten zu Arbeitsleistungen angefordert werden. Für meine Mutter fuhren sie Kohlen aus. Ich saß neben dem Kutscher und zeigte ihnen, wohin sie die Kohlen zu bringen hatten. Es waren gutmütige und fleißige Kerle. überall bekamen sie etwas zugesteckt: eine Schnitte Brot, eine Tüte Obst ... und vor allen Zigaretten, Marke Petrus, "er ging hinaus und weinte bitterlich" ... aber sie haben sie mit Genuß geraucht. Sie fühlten sich in Festenberg offensichtlich wohl. Ob sie sich 30 Jahre später dieser menschlichen Behandlung erinnert und Gleiches mit Gleichem vergolten haben?
Neben dem Bahnhofsgebäude war der Güterschuppen. Wieviele Möbel mögen von hier aus den Weg ins Reichsgebiet genommen haben? Meistens war die Lagerhalle voll, aber auch auf dem Bahnsteig standen die wohlverpackten Möbel. Das nutzte einer der vielen Fahrschüler aus, die von hier täglich zum Gymnasium nach Oels fuhren. Er soll es geschafft haben, sich einen Monat lang unbemerkt durch die Möbel in ein Abteil zu schleichen und auf dem Clo mitzufahren, ohne daß es der Schaffner bemerkt hätte. Was tut man nicht alles, um sein Taschengeld aufzubessern ...
Wir wollen noch nicht die Bahnhofsstraße hinunter
Abb. 42
"Fahrkartenhäusel" am Bahnhof Festenberg
gehen, sondern hinter dem Bahndamm nach rechts abbiegen. Ein paar hundert Meter weiter neigt sich der Fußpfad und wir stehen vor einem kleinen Bach. Ich habe mich immer gewundert, daß er ausgerechnet "die wütende Brande" heißt. Sollten die Festenberger so friedfertige Menschen gewesen sein, daß sie das gemächliche Dahinplätschern dieses Bächleins schon als "wütend" empfanden? Eine andere Deutung ist wahrscheinlicher. Die Ironie lag den Festenbergern, warum sollte dieser Name nicht ironisch gemeint sein?
So unscheinbar auch der Bach war, für die Festenberger Tuchmacher spielte er Schicksal. In der ersten Zeit reichte sein Wasser für die vielen Arbeitsgänge der Tuchmacherei aus. Später jedoch, als das Gewerbe florierte und man weit mehr Wasser brauchte, reichte seine Kapazität nicht mehr aus. So wanderten sie in die Lausitz aus und kamen in Forst und Umgebung zu einer neuen Blütezeit. Die Anfänge der Tuchmacherei waren recht bescheiden. Es war Zufall, daß unter den Gewerbetreibenden, die Eleonore ins Land rief, einige Tuchmacher waren. Von der Tuchmacherei konnten sie allein nicht leben, sie brauchten zur Ergänzung etwas Landwirtschaft. Da begannen die Schwierigkeiten, denn Pachtland war knapp. Nicht einmal in der Nähe ihrer Häuser konnten sie Platz für Stall und Scheune finden. Deshalb baute man außerhalb der Stadt auf der linken Seite des Weges nach Sandraschütz eine lange Reihe von Scheunen. Jeweils zwei wurden mit ihren Giebeln zusammengebaut. Das ersparte Baumaterial. Zwischen den Doppelscheunen wurde genügend Raum gelassen, damit die Getreidefuhren hindurchfahren konnten. Außerdem sollten die Lücken das übergreifen von Bränden verhindern. Als die Tuchmacher bei gut gehendem Geschäft auf einen landwirtschaftlichen Nebenerwerb nicht mehr angewiesen waren, wurden die Scheunen abgerissen.
Während in den Anfängen ausschließlich in Handbetrieben gearbeitet wurde, konnten sich später einige Tuchmacher Spinnmaschinen einfachster Bauart leisten. Dazu benötigten sie einen Schuppen, der so groß war, daß in ihm ein Pferd im Kreis wie bei einem Göpel die Spinnmaschine antreiben konnte. Solche Schuppen nannte man "Roßwerke". Man kann sich gut vorstellen, daß das Ergebnis solch primitiver Arbeit nicht besonders einträglich sein konnte. Die eigentliche Arbeit wurde im Winter geleistet. Im Sommer brachten die Tuchmacher ihre Produkte entweder auf dem Rücken tragend oder auf einer "Raber" schiebend tief nach Schlesien oder nach Posen hinein. Die Produkte müssen von recht guter Qualität gewesen sein, denn die Nachfrage stieg so sehr, daß man den Bedarf mit einfachen Maschinen nicht mehr decken konnte. Inzwischen hatte man sich auch organisiert, wofür man die Bezeichnungen Zeche, Gilde und Zunft munter nebeneinander gebrauchte. Schon um 1800 plante die Zunft, eine Tuchfabrik zu bauen. Aber dieser genossenschaftliche Gedanke vermochte noch nicht sich durchzusetzen. Erst 1860 war es soweit. Man baute neben die Stadtbrauerei, parallel zur wütenden Brande, ein langgestrecktes Gebäude, das zur Straßenseite hin zwei Stockwerke hoch, zur wesentlich tieferen Brande hin jedoch drei Stockwerke hoch war. In diesem Gebäude waren die wichtigsten Maschinen untergebracht: ein Dampfkessel mit Dampfmaschine, vier Färbereikessel, zwei Spinnmaschinen, der Wolf (Zerkleinerungsmaschine für Wolle). Wenig später kamen mechanische Webstühle hinzu. Die obere Etage war für Vorräte an Wolle und Fertigwaren bestimmt. Zwanzig Jahre lang ging es von nun an den Tuchmachern gut. Die feineren Tuche wurden in der Tuchfabrik gefertigt, die gröberen auf den weiter bestehenden Handwebstühlen in eigener Heimarbeit. Für sie bedeutete es eine wesentliche Erleichterung, daß sie ihre Erzeugnisse in den großen Kesseln der Tuchfabrik färben konnten. Dann aber, im Juli 1886 traf die Tuchmacher ein schwerer Schlag: die Tuchfabrik brannte total ab! Nur Färbekessel, Dampfkessel und Dampfmaschine blieben heil. In ihrer Not wandten sich die Tuchmacher an den damaligen Kronprinzen, der als Kaiser Friedrich III. nur 99 Tage an der Regierung war. Er zeigte Verständnis und erwirkte größere finanzielle Zuwendungen für den Wiederaufbau. Die Fabrik erhielt auf diese Weise auch fortentwickelte neue Maschinen. Um eine bessere Ausnutzung der Kohle zu erreichen, wurde der Schornstein der neuen Fabrik wesentlich erhöht. Das Heranschaffen der Kohle war umständlich. Bis zum Jahre 1877 mußte sie von Oels aus mit Pferdegespannen nach Festenberg geholt werden. Von Oels bis Kieferkretscham war die Straße recht ordentlich, der Sandweg von dort bis nach Festenberg aber muß den Pferden arg zu schaffen gemacht haben. Besser wurde es erst, als die Kohle durch den Bau der Oels-Gnesener Bahn bis nach Groß-Graben herangeführt werden konnte.
Wie immer, wenn sich ein Wettbewerb verschärft, heben sich die Tüchtigen bald heraus. So zählten zu den bekanntesten Tuchmachern Karl, Paul und Traugott Erbs, sowie Karl, Fritz und Gotthelf Noack. Dabei handelte es sich um selbständige Betriebe. Um sie zu unterscheiden, wurden sie mit Beinamen belegt, etwa ein Noack mit dem Beinamen "der Zink-Noack", weil sein Haus mit Zinkblech gedeckt war, ein Brauch, der später von den Tischlern übernommen wurde. Bald aber bekamen die Tuchmacher die Folgen der Industrialisierung zu spüren, die in anderen Gebieten schneller fortgeschritten war. Wohl war der Wille zur Modernisierung vorhanden, auch Bauland, aber es fehlte das Wasser, denn die wütende Brande gab nicht genügend her. Hinzu kam, daß die Absatzgebiete zu weit entfernt lagen und somit hohe Transportkosten die Tuche verteuerten und sie nicht mehr konkurrenzfähig waren. So blieb den Tuchmachern nichts anderes übrig, als sich anderswo günstigere Bedingungen für ihr Gewerbe zu suchen. Sie fanden es in Forst in der Lausitz. Bald sollte sich ihr Entschluß als richtig erweisen. In Forst waren die Bedingungen so günstig, daß die Tuchmacher dort einen enormen Aufschwung
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Festenberg Breslauer Straße vor 1914
Abb~ : erlebten. Sie errichteten größere Fabriken und erhielten lukrative Aufträge vom Militär. Einige wurden wegen ihrer Leistungen sogar mit dem Titel eines Kommerzienrats geehrt. In Festenberg war die wütende Brande für die Tuchmacher so etwas wie ein Schicksalsbächlein geworden: die Tuchfabrik wurde am 1.4.1900 geschlossen.
Auch nach ihrem Weggang blieben die Tuchmacher mit ihrer ehemaligen Heimatstadt verbunden, vor allem auch durch verwandtschaftliche Bande. Vielleicht war das mit ein Grund dafür, daß Festenberg wegen des drohenden Russeneinfalls 1914 nach Forst und Guben evakuiert werden sollte, bis Hindenburg die entscheidende Wende herbeiführte und die Evakuierung unterbleiben konnte. Wir verlassen die "wütende Brande" und erreichen die Straße, die von Schönwald kommend in die Stadt hineinführt. Zur linken Hand liegt die "Festenberger Holzindustrie AG", fast ein Symbol der Tischlerstadt.
Der Waldreichtum der Umgebung Festenbergs hatte schon früh dazu geführt, daß Festenberg eine Stadt der Tischler geworden ist. In den 30er Jahren konnte die Tischlerinnung ihr 250jähriges Jubiläum feiern, sie wäre heute an die 300 Jahre alt. Die Festenberger Tischler-Innung gab sich eine für heutige Begriffe strenge Zunftordnung, die für Binnendeutsche unverständlich erscheint, im Grenzkampf jedoch notwendig ist. So durfte kein Fremdsprachiger aufgenommen werden. Zwei hochgestellte Persönlichkeiten mußten als Zeugen dem jungen Bewerber bestätigen, daß seine Vorfahren deutsch waren, die deutsche Kultur gepflegt haben sowie christlichen Bekenntnissen und ehelicher Abkunft waren.

Neben den Holzverarbeitungsbetrieben gab es auch immer den Holzhandel. So betrieb vor der Jahrhundertwende Oskar Bley sen., der Vater des späteren Sanitätsrats Dr. Bley, ein Holzhandelsgeschäft größten Stils in der Goschützer Straße, das er erst aufgab, als in Frauenwaldau die Fa. Cernigk u. Co. ein modernes Sägewerk errichtete. Diese Firma hatte große Verträge mit Schiffbaugesellschaften abgeschlossen, denn die großen Forsten - die königl. preußischen in Kuhbrück und die königl. sächsischen in Groß-Graben sowie die Graf von Maltzanschen in Militsch konnten viel überständiges Holz liefern.
Der Bau des Sägewerks in Frauenwaldau gab den Festenberger Tischlern so etwas wie eine Initialzündung. Es lieferte besseres Holz, das durch Gattersägen geschnitten wurde. Damit entfiel für die Tischler weitgehend die Mühe des Sägens mit der Hand. Natürlich war auch der Zeitgewinne beträchtlich, man konnte mehr produzieren. Deswegen regte sich bald der Wunsch, auch in Festenberg ein solches Sägewerk zu besitzen.
Zum Sprecher dieser Wünsche machte sich der damalige Tischlerobermeister Schlawitz. Er kannte die mühevolle Handarbeit der Tischler. Das Handsägen und Hobeln führte damals in stärkerem Maße als später zur Berufskrankheit der Tischler, dem hohen und auf der rechten Seite besonders stark ausgeprägten Rücken. Noch mein Onkel Robert Thomale trug deshalb den Spitznamen "Graf Schräge". Maschinell hergestellte Bretter hatten den großen Vorzug, sauberer geschnitten zu sein und in genau berechneter Stärke. Mithin wurde die weitere Bearbeitung viel leichter. Wären wir heute noch in Festenberg, wir müßten Hugo Schlawitz eine besondere Ehrung zuteil werden lassen, eine Straße nach ihm benennen oder seine Büste im Rathaussaal aufstellen, aus Holz geschnitzt, natürlich. Er war ein Mann von ungewöhnlicher Weitsicht und Tatkraft. Zunächst allerdings schien sein Plan, in Festenberg ein Sägewerk zu errichten zu scheitern, denn es fand sich kein Geldgeber. Doch Schlawitz verstand es - für die damalige Zeit recht ungewöhnlich - einen Weg zum Oberpräsidenten in Breslau zu finden. Oberpräsident von Schlesien war Fürst Hermann von Hatzfeld, Trachenberg. Botenmeister im Oberpräsidium war ein Schulfreund von Schlawitz mit Namen Neumann. Der Bruder dieses Neumann war der Bildhauer und Tischlermeister Paul Neumann, den die Festenberger wegen seines Rübezahlbartes "Berggeist" nannten.
Schlawitz schaffte es überdiesen Umweg, beim Oberpräsidenten eine Audienz zu bekommen und seine Pläne darzulegen. Gespannt warteten die Festenberger Tischler auf das Ergebnis dieses Vorstoßes. Zunächst konnte Schlawitz nur berichten, daß sein Plan wohlwollend aufgenommen worden sei, aber noch eine gewisse Zeit verstreichen würde, bis man höheren Orts alles überprüft habe. Skeptiker glaubten, Schlawitz sei nur vertröstet worden und es würde nichts daraus werden. Wenig später aber sickerte durch, daß der damalige Landrat, Herr von Busse, eingeschaltet worden sei. Also hoffte man wieder. Und tatsächlich, die "Schlawitz-Idee" nahm festere Gestalt an und eines Tages verkündete der Oberpräsident seinen Entschluß: Es wird eine Genossenschaft gegründet mit dem Titel "Festenberger Holzindustrie, eingetragene Gesellschaft mit beschränkter Haftung". Als Startkapital waren 50 000 Mark angesetzt. Die Haftsumme betrug für jeden Genossen pro Anteil 500 Mark, die bei einer Einlage von 50 Mark und jede Woche mit einer Mark solange bezahlt werden sollte, bis der Anteil voll eingezahlt war. Die Provinzial-Hilfskasse erklärte sich bereit, 50 000 Mark vorzuschießen. Sie verlangte aber Bürgschaften. Und wieder gewannen die Skeptiker die Oberhand. Sie glaubten nicht, daß sich Bürgen finden würden. Sie hatten sich getäuscht. In kurzer Zeit erklärten sich bereit, die Bürgschaft, zu übernehmen: Graf Heinrich von Reichenbach-Goschütz für 30 000 Mark und Dr. von Korn-Rudelsdorf für weitere 10 000 Mark, beide ohne Rückbürgschaft. Als dritter Bürge sollte die Stadt Festenberg eintreten. Sie forderte jedoch von den Genossen über 10 000 Mark. Wenig später konnte die Gründung der Holzindustrie G.m.b.H. erfolgen. In den Vorstand wurden Hugo Schlawitz, Robert Wuttke und Ernst Hoy gewählt. Man kaufte einen Platz rechts am Weg nach Klein-Schönwald hinter den Scheunen, die damals noch standen, bis zur Einmündung der kleinen Brande und zum Weg, der zur Koschmieder-Windmühle führte. Die Ausführung der Bauten wurde Baumeister Rother übertragen. Die elektrische Beleuchtungsanlage baute die AEG mit 110 Volt Gleichstrom, wie es damals noch allgemein üblich war. Wenn die Dampfmaschine nicht lief, wurde auf Akkumulatoren umgeschaltet.
Von nun ab kamen die Langholzfuhrwerke von überall her und es dauerte nicht lange, bis der Stapelplatz voll war und keine Stämme mehr angenommen werden konnten. Es erwies sich als notwendig, das Werk baldmöglichst zu erweitern. Da außerdem die Stadt daran interessiert war, eine bessere Straßenbeleuchtung zu bekommen, entschloß man sich zur Anschaffung eines zweiten Dampfkessels und einer zweiten Dampfmaschine. Sie war 180 gebremste Pferdestärken stark und wurde von Raupach, Görlitz, gebaut, während den Kessel die Fa. Fitzner, Laurahütte O/S lieferte. Den elektrischen Teil baute wiederum die AEG, offenbar war sie schon damals aus Erfahrung gut! Zuvor aber mußte noch eine kleine Schwierigkeit ausgeräumt werden. Der alte Schornstein war 20 m hoch, im Sockel viereckig, darüber achteckig. In seinem Innern waren Steigeisen befestigt. Nun mußte festgestellt werden, ob seine Ausmaße für die Errichtung eines zweiten Kessels ausreichend waren oder der Schornstein verbreitert und
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Festenberg Groß Schönwälder Straße, links Sägewerk der Festenberger Holzindustrie. Bildmitte: kath. Kirche rechts davon ev. Kirche
erhöht werden müßte. Da die Zeit drängte und die Festenberger wohl mit der Beschäftigung von "Spezialisten" ihre Erfahrungen gemacht hatten, wollte man die Prüfung der oberen Schornsteinweite selber besorgen. Wer aber sollte es tun? Zunächst fand sich niemand bereit. Nicht mal ein frecher Lehrling wagte es. Ist ja auch nicht so einfach, im verrußten, engen und finsteren Schornstein auf den Steigeisen bis zum oberen Rand hinaufzuklettern. Jedenfalls wurde der kühne Mann, der es schließlich tat, wie ein Held gefeiert. Das lag wohl daran, daß er nicht mehr zu den Jüngsten zählte, denn er hatte bereits 30 Jahre Arbeit an der großen Bandsäge hinter sich. Es war Theodor Geritzen, der feststellte, der Schornstein habe oben einen Durchmesser von 70 cm. Damit genügte der Schornstein auch für die erweiterte Aufgabe und brauchte nicht umgebaut zu werden.
Die Gründung der Holzindustrie e.G.m.b.H. war für die Festenberger Tischler ein wichtiges Ereignis, denn endlich konnten sie Holzbearbeitungsmaschinen mit elektrischem Antrieb aufstellen. Auch die Drechsler brauchten nicht mehr zu "treten". Angegliedert war auch eine Werkstatt mit Holzbearbeitungsmaschinen, die es den selbständigen Tischlern zunächst ersparte, sich die kostspieligen und für den einzelnen auch unrentablen Maschinen selbst anzuschaffen. In den letzten Jahren vor dem zweiten Weltkrieg gab es kaum noch einen Betrieb, der nicht die notwendigsten Maschinen selber besaß. Die Stadt bekam Bogenlampen für die Beleuchtung ihrer Straßen. Talglichte und Petroleumlampen konnten auf dem Dachboden abgestellt werden, zur Reserve, denn man konnte ja nie wissen ... Zu diesem Zeitpunkt war es wenig mehr als hundert Jahre her, daß Geheimrat von Goethe seinem Sekretär gegenüber geäußert hatte ... "wenn doch endlich jemand etwas erfinden würde, daß man nicht dauernd den Docht der Kerze abschneiden muß!"
Jahre später wurde die G.m.b.H. in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Den Elektrizitätswerken Schlesien gelang es bald, über 50 % der Aktien in ihre Hand zu bekommen. Sie machten das Angebot, alle vorhandenen Gleichstrommotoren gegen neue Drehstrommotoren kostenlos zu tauschen. Leider erkannten nur wenige Tischler die Vorzüge einer solchen Umstellung. Die Mehrzahl der Motorenbesitzer lehnte ab,sodaß es beim Gleichstrom blieb. Es blieb auch bei der Umschaltung auf Akkumulatoren in betriebsarmen Zeiten. Wenn in diesen Augenblicken der Umschaltung das elektrische Licht in den Stuben der Festenberger zu flackem begann, stellte man etwas resignierend fest "der Moch-Franze gokelt", denn er war lange für die Wartung verantwortlich. Man einigte sich auch darauf, daß von nun an die Stadt der Lieferant für Licht- und Kraftstrom war und das Geld kassierte.
Neben der Festenberger Holzindustrie gab es zwei weitere Sägewerke: eins in Klein-Schönwald, letzter Besitzer Fritz Krause, vor dem 1. Weltkrieg von Pohl und Richter gegründet. Ein weiteres errichtete in der Nähe des Schützenhauses der Baumeister Michno.
Verlassen wir nun das Gelände der Holzindustrie-AG. Wir gehen weiter in Richtung Stadt. Links steht die "Hansohm-Villa". Georg Hansohm war seit 1919 selbständiger Baumeister und wurde später Direktor der Holzindustrie-AG. Wenn man von hier den Blick nach rechts wendet, sieht man den Festenberger Schweinemarkt. Diese Bezeichnung hat mich schon als Kind geärgert. Ich empfand sie einer Stadt nicht angemessen. Und doch hatte der Markt für Festenberg eine große Bedeutung. Von überall her kamen die Bauern, trieben ihr Vieh auf und boten landwirtschaftliche Produkte zum Kauf an. Wenn sie wieder in ihre Dörfer zurückkehrten, hatten sie viele Dinge des täglichen Bedarfs in den Geschäften Festenbergs gekauft. Der Schweinemarkt hatte für mich noch eine persönliche Bedeutung: hier habe ich die ersten Schritte meines Lebens getan. - In einem Eckhaus am Markt wohnte die alte Frau Bogus, die "Bogussen", wie wir sagten. Sie war klein und hatte tiefschwarze Haare, in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem kleinen Knoten gebunden. Ihr Gesicht war von Not und Alter tief gefurcht, von Wind und Wetter dunkelbraun gegerbt. So habe ich mir später die Urgroßmutter eines Indianerhäuptlings vorgestellt. Sie ging an den Markttagen mit einem großen Eimer von Kuh zu Kuh, um sie zu melken, wozu die Bauern beim frühen Aufbruch nach Festenberg meist keine Zeit mehr hatten. Der Verkauf der Milch war für Frau Bogus ein kleiner Nebenerwerb, ein größerer jedoch war, daß sie anschließend herumging und warme "Wurschtl" mit Semmeln und Mostrich zum Kauf anbot. Als sie mich eines Tages auf den Armen meiner Mutter sah, bedeutete sie ihr, sie solle mich absetzen. Sie nahm ein Würstchen aus ihrem Behälter und hielt es mir vor den Mund. Meine Mutter ließ mich los, Frau Bogus ging in tiefer Kniebeuge rückwärts, indem sie mich mit dem Würstchen lockte, und ich folgte ihr tapsend durch den weichen Sand: die ersten Schritte meines Lebens.

Vom Markt gehen wir weiter in die Stadt hinein in Richtung der beiden Kirchen und wenden uns der größeren evangelischen zu. So wie sie vor uns steht, wurde sie 1877 erbaut. Ein Neubau wurde nötig, nachdem die alte evangelische Kirche am Oberring am 18 April 1873 völlig abgebrannt war. Auch das untere Pastorenhaus, das mehr als hundert Meter entfernt lag, brannte ab. Ausgelöst wurde der Brand durch Brandstiftung. E. Obuch hatte sein Vaterhaus vorsätzlich angezündet. Die Klein-Schönwalder Gasse wurde bis zum Viehmarkt ein einziger Schutthaufen. Obuch erhielt eine Zuchthausstrafe von zwölf Jahren, hat sie aber nicht abgesessen, weil er vorher gestorben ist. Die neue Kirche, von Baumeister Hermann Glaesner erbaut, ist ein stattlicher Kreuzbau in Ziegelrohbau. Der Turm ist in das Kirchenschiff eingebaut und hat eine Höhe von 65 Metern. Er hat einen achteckigen, mit Schiefer gedeckten Pyramidenkegel. Die Kirche besitzt insgesamt sieben Eingänge. Die Fenster haben Sandstein-Rahmen und Bleiverglasung. Der Hohe Chor hat bunte Fenster. Kunsttischlermeister Bernhard Milde baute Altar, Kanzel und Taufstein. Sein Sohn schuf die Kriegerehrentafel für die im 1. Weltkrieg Gefallenen. Die Orgel, bereits mit elektrischem Gebläse, baute die Fa. Schlag u. Söhne, Schweidnitz. Die sechs Türen und das Hauptportal sind aus Eichenholz und mit schwerem Kunstschmiede-Eisenbeschlag von Tischlermeister Ludwig gefertigt. Die beiden zirkelrunden Fenster im Kreuzbau schuf der Geselle Gustav Pelz, Bruder des bekannteren Kaufmanns Pelz. Den Kirchturm krönt ein kunstvolles Kreuz in Feuervergoldung. Von der Kirchturmuhr sagt man, sie sei stehengeblieben im gleichen Augenblick, als ihr langjähriger Betreuer, Uhrmachermeister Moschner, starb. Die Kirche ist mit einem Eisenzaun umgeben, der zwei Tore hat. Innerhalb des Zaunes sind Sträucher-Anlagen. Eingebettet ist die Kirche in einen Kranz alter Linden. Die von Schönwald kommende Straße teilt sich vor der Kirche, führt in zwei Bahnen um die Kirche herum, die sich vor dem Hauptportal vereinigen und in die "Lange Gasse" münden. Damit hat die Kirche eine ungewöhnlich schöne Lage. In der Straßengabelung der Südseite steht das Kriegerdenkmal aus schlesischem Granit. Seine Bekrönung, ein stilisierter preußischer Adler, wurde 1945 abgeschlagen.
Die Kirche steht inmitten des Oberringes. Die gärtnerischen Anlagen um sie herum würden durchaus einem Kurort zur Ehre gereichen. Nehmen wir auf einer der vielen Parkbänke Platz. Den Oberring bilden Bürgerhäuser, Geschäftshäuser, eine Gaststätte, eine Konditorei, die alte evangelische Schule, die nach dem Bau einer neuen an anderem Platz ein Arbeitsdienstlager beherbergte, die Alte Post in der Südostecke, die neue in der nordwestlichen Ecke. Hier stand kurz vor der Jahrhundertwende noch die "Alte Wache", ein kleines, zuletzt fast verfallenes Häuschen. Sein Grundriß war nicht größer als eine Wohnstube. Man betrat es von der Straße aus, es hatte keinen Flur. An den Hausecken standen zwei mächtige Linden. Es ist möglich aber nicht gesichert, daß diese Wache aus der Zeit stammte, als Schlesien noch zu österreich gehörte. Für die Annahme spricht, daß nach Beendigung der schlesischen Kriege in Festenberg eine Schwadron friderizianischer Soldaten lag, befehligt von einem Rittmeister, der im alten "Koppe-Haus" am Oberring wohnte. Er beanstandete auch, daß in seiner Wohnnähe ein Friedhof war. Vielleicht befürchtete er eine Grundwasserverschmutzung, vielleicht war er ein so lebenslustiger Geselle, daß ihn der Anblick der Gräber zu sehr an die Vergänglichkeit erinnerte, jedenfalls hatte er Glück mit seinen Eingaben, der Friedhof wurde an die Groß-Grabener Straße verlegt. Vermutlich hat man den Friedhof nur eingeebnet, denn als man nach Fertigstellung der neuen evangelischen Kirche im Jahre 1877 an der Kirche Telefonmasten setzte, fand man Teile von menschlichen Skeletten.
Abb. 45
Festenberg: Kriegerdenkmal (1914-1918)

Später ist dann die "Wache" von einer Art Bürgerwehr benutzt worden. Die Festenberger hatten sich nämlich zusammengetan und einen eigenen Wachdienst organisiert. Jeweils acht Bürger fanden sich nach einem festgelegten Wachtplan in der Wache ein und lösten sich alle Stunden ab. Sie umschritten zu zweit mit Spieß und Horn bewaffnet die Stadt und gaben die vollen Stunden durch ein Hornsignal an. Natürlich waren sie auch verpflichtet, nach Feuer Ausschau zu halten und eventuelle Löschdienste zu leisten. Woher aber konnten sie notfalls Löschwasser nehmen? Wie war das überhaupt mit der Wasserversorgung?
In seinen ersten Anfängen kam Festenberg mit dem Wasser der Brande und mit Schöpfbrunnen aus. Als jedoch der Bedarf stieg, mußten sich die Festenberger nach zusätzlichen Möglichkeiten umsehen. Man entdeckte Quellen am Himmelfahrts- und Weizenberge. Von diesen beiden Quellen aus wurde das Wasser in Rohre geleitet. Aus welch anderem Material als aus Holz konnten diese Rohre in einer Tischderstadt sein! Die Stämme wurden entrindet und mit etwa zehn Zentimeter Lochweite durchbohrt. Verbunden wurden die Rohre durch eiserne Muffen, abgedichtet mit fettem Lehm oder Ton. Die so verbundenen Rohre legte man vom Weizenberg in 1,5 m Tiefe die Groß-Schönwälder Straße entlang bis zum Oberring (Spritzenhausseite). Die zweite Leitung führte vom Himmelfahrtsberg die Klein-Schönwälder Straße entlang bis zur Gaststätte "Grüner Kranz". Die beiden Ausflußrohre verströmten ihr Wasser in zwei Bassins, die 2 x 2 m groß und einen Meter tief waren. Die Becken waren mit Holz ausgekleidet, um ein Nachrutschen der Erde zu verhindern. Auch in den trockensten Sommern kam nie versiegend dieses gute Quellwasser nach Festenberg. Tagsüber war die Zapfstelle stets von Wasserholern besetzt. Wenn nachts kein Wasser entnommen wurde, konnten die Bassins nie überlaufen, denn man hatte vorsorglich hinter den Bassins noch je ein zweites, recht großes Becken (20 x 10 x 2 m) gebaut, wohin überlaufendes Wasser entweichen konnte. In ihnen schwammen auch schon fertige Reserverohre. Zum Schutz für spielende Kinder waren die großen Becken umzäunt. Wer seine Wäsche spülen wollte, mußte daher beim Bürgermeister oder Polizeidiener erst den Schlüssel zur Zauntür holen, denn an der Seite des großen Beckens war eine Holzbohlendielung angebracht. Natürlich hatten diese Becken auch eine Bedeutung für die Feuerwehr. Aber auch sie mußte bei Löschübungen erst den Schlüssel holen ... denn Ordnung muß ja sein. Wie man das alles aber im Ernstfall geregelt hatte, das ist nicht mehr festzustellen ...

Die Wasserleitung der hölzernen Rohre endete auf dem Oberring und wurde nicht zur Unterstadt weitergeleitet. Dort versorgten Schöpfbrunnen, Schwengelbrunnen und Wasserpumpen die Bevölkerung mit Wasser. Relativ spät bekam Festenberg seine zentrale Wasserleitung, als nämlich die neuen Zementrohre verhältnismäßig billig waren und ihre Verlegung vereinfachten. Das war im Jahre 1909. Am Weg nach Sandraschütz wurde ein Sammelbecken gebaut, in das die Quellen der Eulenberge flossen. Zusätzlich wurden bis Sandraschütz 22 Quellen gefaßt und in die Wasserversorgung einbezogen.
Wir sitzen noch immer auf der Parkbank in den herrlichen Anlagen rings um die evangelische Kirche. Da beginnen die Glocken der katholischen Kirche zu läuten. Sie ist viel kleiner und nur einhundert Schritte von ihrer größeren Schwester entfernt. Sie kommt sich ein bißchen an den Rand gedrückt vor, wie vielleicht auch die Katholiken dieser Stadt, die eine kleine Minderheit bilden. Von einer Annäherung der Konfessionen oder gar von einer ökomenischen Bewegung ist noch nichts zu spüren. Trotzdem, man kam gut miteinander aus, wenn auch eine etwas scheue Zurückhaltung zu spüren war. Auch das ist historisch zu verstehen. Nach der Reformation galt ja der Grundsatz "Cujus regio, ejus religio", wer herrscht, bestimmt die Religion. So führte der Herzog von Oels als Landesherr die neue Lehre ein.
Als um 1700 die Herzogin-Witwe Charlotte von Oels wieder katholisch wurde und in Festenberg ihren Wohnsitz nahm, wurde ihr nur die Abhaltung von privatem Gottesdienst erlaubt. Vermutlich fand er in der Kapelle an der Goschützer Straße statt. Inzwischen nahm die Zahl der Katholiken wieder zu. Ab 1864 sollte der Kaplan Robert Letzel die kleine Gemeinde betreuen. Es bestand die Absicht, jene Kapelle für die katholische Gemeinde zu erwerben. Der Plan zerschlug sich. Die Kapelle war zu baufällig, das Grundstück für eine mögliche Erweiterung zu klein und wenig zentral gelegen. So verhandelten Kaufmann Totzki, Rentner Karl Senft und Rechtsanwalt Lottermoser mit dem Fürstbischof in Breslau wegen eines Hauses, das man als Notkirche mit Pfarrwohnung einrichten wollte. 1864 wurde das Haus gekauft, das wir alle kennen. Es war ein massives, zwei Stockwerke hohes Haus mit einem großen Garten und daneben einem Bauplatz, auf dem man später die katholische Kirche errichtete. Welche Toleranz der damaligen kleinen katholischen Gemeinde entgegengebracht wurde, wird dadurch deutlich, daß auch von evangelischer Seite Hand- und Spanndienste geleistet wurden. Insbesondere Rittergutspächter Retter aus Groß-Graben (das Rittergut gehörte dem Herzog von Braunschweig) leistete unbezahlte Spanndienste. Baumeister Hermann Glaesner erbaute die Kirche in den Jahren 1867 bis 1869. Sie ist ein Backstein-Verputzbau
Abb. 46
Festenberg: Kath. Kirche und Schule
in frühgotischem Stil, vier Stockwerke hoch mit einem vorgebauten Turm mit obeliskartigem Abschluß. Zum Oberring hin lag das Portal, auf der rechten Seite war die Sakristei angebaut mit einer Tür, die über einen Gartenweg die Kirche mit dem Pfarrhaus verband. Am 10 November 1868 weihte Weihbischof Ulodarski, Breslau, die Kirche unter großer Anteilnahme von Kreisbehörden und Festenbergern ein. Das Geläut der Kirche war für drei Glocken vorgesehen. Kaiser Wilhehn I. schenkte das Metall, Glockengießermeister Wilhelm Geittner, Breslau, goß sie. Erst 1872 wurden die Glocken in einem hölzernen Glockenstuhl aufgehängt, der 1925 durch einen eisernen ersetzt wurde. Die katholische Gemeinde Oels schenkte eine gebrauchte alte Orgel, bis die Gemeinde 1892 eine neue Orgel von der berühmten Orgelbaufirma Schlag u. Söhne, Schweidnitz, kaufen konnte. Die Orgel hatte pneumatisehe Luftzuführung, Pedal, zwei Manuale und zwölf Register. Das Gehäuse war gotischen Stils und paßte sich vorzüglich dem Rauminneren der Kirche an. Malermeister Ludwig gab dem Gehäuse die farbige Fassung und vergoldete Kreuzblumen und Krabben. Auch für die alte Orgel hatte man noch Verwendung. Sie wurde nach Vereinbarung mit dem Patron der Schönwalder Kirche, dem Grafen Heinrich von Reichenbach-Goschütz, in der Filialkirche von Groß-Schönwald verwendet. Die sechs Kirchenfenster in Holz, die drei Altäre, Kanzel, Taufstein und Kommunionbank fertigte Kunsttischlermeister Karl Buhl, Breslau. Die beiden Glasfenster im Chor malte Kunstmaler Krückemeier, Breslau. In der Motivwahl für diese beiden Fenster hatte man eine glückliche Hand, denn was wäre beziehungsreicher gewesen als St. Hedwig, die Schutzpatronin Schlesiens, und St. Josef, der Schutzpatron des Handwerks. Der Entwurf für die Gedächtnistafel für die im 1. Weltkrieg Gefallenen stammte von Ernst Rettelbusch, Nürnberg. Die Namen schnitzten Bildhauermeister Georg Schikore und J. Pischzur. Die vierzehn Kreuzwegstationsrahmen waren ein Entwurf von Architekt Zimmermann, Breslau, die Tischlerarbeiten daran von KunsttischlerGustav Padrock, die Schnitzarbeiten von Georg Schikore. Vergoldung und Beschriftung der Rahmen fertigte Malermeister Winschiers. Genug der Kirchengeschichte, ich schlage vor, hinunter zum Stauweiher zu gehen. Doch was ist das? Hört man nicht Gesang, seltsam ineinander verwoben, die beiden Kirchenchöre, einig im Lobe eines Höheren? Besonders der evangelische Kirchenchor brachte es zu beachtlichen Leistungen unter seinen Leitern Seibold, Pauly und Melzig. Unvergessen sind die großen öffentlichen Aufführungen anspruchsvoller Oratorien. Aber auch der katholische Kirchenchor leistete Beachtliches unter dem Organisten und Lehrer Beschorner. Seine Höhepunkte lagen in der Weihnachtsliturgie und bei den Fronleichnamsprozessionen. Wenn wir jetzt zum Stauweiher hinunter gehen und nach rechts in die Schönwälder Straße hineinschauen, liegt in geringer Entfernung die katholische Schule. Interessante Erinnerungen wie etwa das Trocknen von gesammelten Nesseln während des 1. Weltkrieges und damit Unterrichtsausfall (aus den Brennesseln wurden Textilien hergestellt) verdrängen eine unangenehme Erinnerung: in diesem Schulhaus habe ich 1917 die erste und letzte Ohrfeige meines Lebens bekommen. Und wie ich heute noch glaube - zu Unrecht! Der Lehrer fragte mich, welche Wörter noch mit "th" geschrieben werden ... Und ich platzte heraus: "Thron, Thomale, Bratheringe!" Und schon hatte ich eine sitzen ... Doppelt peinlich für mich, daß dieser Lehrer mein Onkel war.
Inzwischen sind wir die Seifert-Gasse hinuntergegangen und stehen vor dem Stauweiher, angestautem Wasser der wütenden Brande. Zur Rechten die alte Tuchfabrik. Als die Tuchmacher Festenberg verlassen hatten, stand sie lange Zeit leer. Später fand sich Berthold Deutscher bereit, das Haus zu kaufen. Auf der rechten Seite richtete er ein Getreidelager ein, die linke Seite wurde von Georg Milde und Georg Plüschke zu Tischlerwerkstellen hergerichtet. Im Untergeschoß waren die Wohnungen von Paul Geburek sen. und Paul Janek, der später ein eigenes Siedlungshaus bezog. Außerdem wurden in der Tuchfabrik noch eine Elektro-Werkstatt und ein Furnierlager angelegt. übrigens berichtete Georg Kutsche, daß sein Vater, Tischlermeister Robert Kutsche, nach dem ersten Weltkriege beim Pflügen eines Ackers einen Zinnteller mit einem Durchmesser von 40 cm gefunden habe. Auf dem Teller waren in Strichritzung das Wappen der Festenberger Tuchmachergilde, die Namen des Gildenvorstandes sowie die Jahreszahl 1794 eingeritzt. Berichter Georg Kutsche vermutet sicher zu Recht, daß der Teller vom damaligen Besitzer in den Wirren des Rückzuges der napoleonischen Armee im Jahre 1812, der ja teilweise durch Festenberg führte, vergraben worden ist.
Abb. 47
Festenberg, Unterring mit Amtsgericht, rechts oben die Stauanlage

Es war schon eine gute Idee, den Stauweiher anzulegen, hatte damit doch Festenbergs Jugend eine schöne Möglichkeit zum Schwimmen. Auch meine Geschwister und ich gingen, so oft wir nur konnten, runter an den "Tümpel", wie meine Mutter leicht abwertend sagte. Ihr Leben war nur Arbeit und Sport war für sie nur eine etwas gehobene Art des Faulenzens ... Dennoch haben wir es einmal geschafft, daß sie uns an einem Sonntag begleitete. Noch heute tut mir leid, was ich mir dabei leistete.
Bei den Umkleidekabinen war ein Stück des Ufers gemauert, etwa zwei Meter hoch über dem Wasserspiegel. An einer Stelle war das Geländer für eine Holzplattform unterbrochen, von der aus man ins Wasser springen konnte. Die Plattform war so groß, daß bequem auch Zuschauer auf ihr stehen konnten. Vor allem das Tauchen machte Spaß und wir versuchten, eine immer größere Strecke unter Wasser zu bleiben. Und dann diese dumme Idee: ich sprang wie oft zuvor, drehte aber in dem undurchsichtigen Wasser wiederum und tauchte leise und unbemerkt unter der Holzplattform auf. über mir aber rätselten Mutter und Geschwister, wo ich geblieben sein könnte, und äußerten ihre Besorgnis ... Erst jetzt gab ich mich zu erkennen. Seltsam, daß es Söhne fertigbekommen, ihren Müttern, die sie so sehr lieben, solche unnötigen ängste einzujagen.
Abb. 48
Festenberg: Am Unterring, Rathaus und Gasthaus Weber

Ein Blick noch hinauf zur neuen evangelischen Schule, zur Landwirtschaftsschule daneben und hinüber zur Ziegelei, denn wir wollen zurück zum Oberring und von dort aus die Lange Gasse hinunter gehen. Bevor wir einbiegen, sehen wir links die "Tischlerbörse". Sie war das Versammlungslokal der Tischler-Innung. In den 30er Jahren gab es in Festenberg 160 selbständige Tischlerbetriebe, von denen die größeren bis zu 40 Gesellen und Lehrlinge hatten. Insgesamt arbeiteten in Festenberg 1200 Tischler, die Innung zählte 135 Meister. Bekannte Namen bei den Tischlern waren: Moch, Milde, Ristel, Binner, Thomale, Kleinert, Geburek, Bengner, Schwarz, Deutschmann, Hiss und Wuttke; bei den Holzbildhauern Hirsch und Mirke, bei den Drechslern Reisner, Anders und Wolf. Letzter Obermeister war Fritz Heilmann, der Ende 1944 verstorben ist.
Die "Tischlerbörse" war natürlich nicht die einzige Gaststätte Festenbergs. Böse Zungen behaupten sogar, Festenberg hätte bezogen auf seine Einwohnerzahl mehr Kneipen gehabt als etwa norddeutsche Hafenstädte ... na, wenn schon! Sie hielten es mit dem Dichterwort "Tages Arbeit, abends Gäste, saure Wochen, frohe Feste". Dazu luden ein: die Alte Brauerei, der Grüne Kranz, das Deutsche Haus, der Goldene Stern, das Einhorn, Konschak, der Grüne Baum und das Schützenhaus. Brauchte man etwas, um sich zu Hause "einen hinter die Binde zu gießen" oder "einen zu verlöten", dann ging man es in einer der Destillen Tartsch, Mundry oder Hering holen.
Abb. 49a
Festenberger Rathaus


Doch gehen wir weiter zum Unterring. In seiner Mitte steht das Amtsgericht. Etwas Wahres ist schon dran, daß man von den Festenbergern behauptet, sie hätten ihr Gefängnis an der schönsten Stelle der Stadt errichtet ... Erbaut wurde es im Jahre 1902.
An der südlichen Seite des Unterrings steht das Rathaus. Mit ihm verbinde ich zwei Kriegserinnerungen, die miteinander in seltsamer Weise verknüpft sind, obwohl sie 25 Jahre auseinanderliegen. - Als mein Vater im ersten Weltkrieg auf Urlaub kam, nahm er mich eines Tages auf den Arm und trug mich zum Rathaus-Vorplatz. Dort war eine große Menschenmenge versammelt. über die Köpfe hinweg sah ich, daß im mittleren Torbogen des Rathauses eine große Tafel stand, auf der die Umrisse eines Eisernen Kreuzes erkennbar waren. Für einen bestimmten Betrag konnte man einen oder mehrere Nägel erstehen und in vorgebohrte Löcher einschlagen. Vermutlich kam der Erlös dem Deutschen Roten Kreuz zugute. Jedenfalls war ich ungeheuer stolz, als mein Vater mir einen Hammer in die Hand drückte und ich einen Nagel einschlagen durfte ... Doch was Krieg ist, das blieb für das Kind eine offene Frage. 25 Jahre später stand ich wieder vor dem Portal und wartete darauf, daß meine Schwester Maria Thomale als Braut vom Standesamt kommend heraustreten würde: der Bräutigam in Uniform, mein Bruder und ein Onkel als Trauzeugen in Uniform, ich selber in Uniform. Jetzt fragte ich nicht mehr, wie vor 25 Jahren, was Krieg ist, das hatte ich inzwischen erfahren, jetzt bedrängte mich die Frage, wie dieser Krieg ausgehen würde.
Abb. 49b
Sitzungssaal der Stadtverordneten im Rathaus

Das Rathaus wurde im Jahre 1912 erbaut und zählt zu den schönsten Rathäusern schlesischer Kleinstädte. Seiner Architektur nach war es kaum einer Stilrichtung zuzuordnen, auch nicht der, die man etwas geringschätzend "wilhelminisch" nannte. Es war in der Ausgewogenheit seiner Maße und in der Strukturierung seiner Fassade einfach "schön". Das war auch die Meinung des damaligen Landrats, der als Ehrengast an der Einweihungsfeier teilnahm. Er bezeichnete den Rathaussaal als den schönsten aller Kleinstädte. Das Verdienst hieran hatte die Festenberger Kunst- und Möbeltischlerei Rudolf Milde. Sie hat in Entwurf und handwerklicher Ausführung jene Erfahrungen eingebracht, die sie bei ehrenvollen Aufträgen sammeln konnte. So hat R. Milde unter anderem den Spiegelsaal im Jagdschloß des Königs von Sachsen in Sybillenort ausgestattet. Das brachte ihm den Titel Hoflieferant und weitere bedeutende Aufträge ein, wie zum Beispiel die Ausstattung des dem alten Feldmarschall von Moltke gehörenden Schloßes Kreisau. Die allseits bewunderte Deckenbeleuchtung im Rathaussaal, eine aus Messing getriebene Krone, war ein Geschenk R. Müdes an seine
Abb. 50
Festenberger Notgeld aus der Inflationszeit nach dem Ersten Weltkrieg
Vaterstadt. Die Bauausführung lag bei der Baufirma Walter Küthz. Zwei Jahre später war der Hauptmann Walter Küthz einer der ersten Gefallenen. Wenig später hat man ihm auf der Wiese zwischen dem Weg zum Himmelfahrtsberg und der Straße nach Klein-Schönwald einen Gedenkstein gesetzt und ein Bäumchen gepflanzt ... Und etwa tausend Meter von diesem Stein entfernt zog 1939 ein junger, fröhlicher Mensch aus, die Heimat zu schützen und fiel als einer der ersten des zweiten Weltkrieges, Ernstl Horn, Sohn des Ziegeleimeisters Horn ... und viele, viele Festenberger erlitten ein Gleiches, Zivilisten auch dann noch, als die Waffen längst schwiegen.
Der Bau des neuen Rathauses(1912)fiel in die Amtszeit von Bürgenneister Adolf Grünig, ein würdiger älterer Herr und, obwohl noch Junggeselle, sehr umgänglich und bei allen Bürgern beliebt. Man wußte nie so recht, ob er die Stadt inspizierte oder nur seinen täglichen Spaziergang machte. Jedenfalls blickte er immer freundlich über seine goldumränderte Brille. "Muttel Weber" von nebenan (Gasthaus Weber) sorgte für sein leibliches Wohl und hielt seine Wohnung im neuen Rathaus in Ordnung. Als er nach seiner Pensionierung 1921 nach Bad Salzbrunn zog, hat er wohl diese Fürsorge von Muttel Weber arg vermißt, denn er soll dort im hohen Alter doch noch geheiratet haben.
Sein Nachfolger war Dr. Herbert Heinrich, ein Mann von noch nicht 30 Jahren, Jurist, und von starker Vitalität. Die Festenberger versprachen sich viel von ihm und hätten ihn gern behalten. Wie sich aber schon nach vier Jahren herausstellte, hatte er Festenberg lediglich als Sprungbrett benutzt. Er folgte einem Ruf in die größere Stadt Wohlau. Bleibende Verdienste von Dr. Heinrich waren die erstmalige Einrichtung einer "gehobenen Klasse" und später der Ausbau dieser zu einer Mittelschule im Gebäude des Vorschußvereins und die Förderung des Festenberger Sports. Während seiner Amtszeit mußte auch Festenberg wegen der Inflation Notgeld drucken, so daß die Unterschrift von Dr. Heinrich auf diesen Geldscheinen stand, gegengezeichnet von dem damaligen Beigeordneten H. Becker. Die Hundertmarkscheine waren übrigens grafisch recht ansprechend gemacht und trugen auf der Rückseite den Blick auf die beiden Kirchen.
Bis zur Neuwahl eines Bürgermeisters führte die Amtsgeschäfte der Oberstadtsekretär Alois Müller.
Abb. 51
Festenberg Unterring, Bildmitte das Goldmann-Haus (mit Balkon)
Obwohl er ein tüchtiger Verwaltungsfachmann war und bei den Bürgern geschätzt, konnte er die Nachfolge von Dr. Heinrich nicht antreten. Damals war das konfessionelle Proporzdenken noch so stark, daß man glaubte, diesen Katholiken bei nur einem Viertel katholischen Bevölkerungsanteils nicht berufen zu können. Er ging später als Bürgermeister nach Groß Wartenberg.
Etwa 1925 wählte man den Rechtsanwalt und Notar Gideon Hahn, 50 Jahre alt, zum neuen Bürgermeister. Er stammte aus Mitteldeutschland, fand sich aber sehr schnell mit den Problemen einer Grenzstadt ab und gewann durch seine freundliche Art bald die Zuneigung der Festenberger. Vor allem konnte er sich auf einen gut eingespielten und tüchtigen Mitarbeiterstab verlassen. Bürgermeister Hahn kam zu einer Zeit nach Festenberg, als die Folgen der Inflation überwunden schienen, doch zeichneten sich bald die Auswirkungen einer Weltwirtschaftskrise ab und wurden besonders im Grenzland spürbar. Die Arbeitslosigkeit stieg so sehr, daß bald nur noch an die 800 Menschen in Festenberg Beschäftigung hatten. Damit erreichte Festenberg die höchste Arbeitslosenzahl in Preußen. Das schuf für die Verwaltung mannigfache Probleme. In vielerlei Eingaben mußte die Reichsregierung auf den Notstand aufmerksam gemacht werden. Aber dieses Bemühen hatte Erfolg. Festenberg wurde in die "Osthilfe" einbezogen. Mit Regierungszuschüssen entstanden im Laufe der Zeit an Wohnhäusern drei Zwölf- und Achtfamilienhäuser, das Beamtenhaus, die Holzhäuser, die Stadtrandsiedlung, das Spritzenhaus, die neue Landwirtschaftsschule und das Krankenhaus mit Altersheim. Mit staatlicher Unterstützung entstanden weitere Wohnsiedlungen an der Ziegelei und an der Straße nach Trebnitz. Der Arbeitsbeschaffung dienten auch sogenannte Notstandsarbeiten wie die Schaffung von Promenadenwegen, der weitere Ausbau des Stauweihers zu einer respektablen Badeanstalt, Straßenerneuerungen und die übernahme der Stromversorgung in städtische Regie, sowie die Verlegung der Stadtspar- und Girokasse in das Mildesche Grundstück, verbunden mit Um- und Erweiterungsbau. Bürgermeister Hahn überstand als einer der ganz wenigen Bürgermeister Schlesiens den Machtwechsel 1933, obwohl er vorher der NSDAP nicht angehört hatte. Auch darin ist wohl eine Anerkennung seiner Leistungen zu sehen. Da er Wahlbeamter auf 12 Jahre war, legte er etwa 1936 sein Amt nieder und ging als 60jähriger in Pension. Wie sehr er mit Festenberg verbunden gewesen sein muß, kann man aus der Tatsache schließen, daß er danach sich ein eigenes Siedlungshäuschen am Ziegeleiweg baute. Im Krieg stellte er sich zur weiteren Dienstleistung zur Verfügung und wurde im Generalgouvernement Polen als Bürgermeister eingesetzt. Dort starb er nach kurzer Tätigkeit, wurde aber nach Festenberg übergeführt. Seine Familie lebt in Westdeutschland und hat noch guten Kontakt mit Festenberger Freunden und Bekannten.
Nachfolger von Bürgermeister Hahn wurde Heinz Schuster, der zuvor schon eine Bürgermeisterstelle in Peisterwitz, Kreis Wohlau gehabt hat. Er konnte nicht ahnen, daß er der letzte Bürgermeister von Festenberg sein würde. Zunächst ging er daran, die Stadt zu verschönern. Fassaden wurden neu verputzt und mit freundlichen Farben versehen. Er hatte offensichtlich die Absicht, Festenberg für den Fremdenverkehr attraktiver zu machen. In seine Amtszeit fiel auch der Bau der neuen Gemeinschaftsschule. Bürgermeister Schuster stammte aus Bayern. Er wurde 1942 versetzt, wohin, ist unbekannt, ebenso, warum er keinen Kontakt mehr zu seinen ehemaligen Mitbürgern pflegt.
Ab 1942 war Stadtinspektor Maskus vom Landrat als kommissarischer Bürgermeister eingesetzt worden. Es war sicher eine bittere Aufgabe für diesen Mann, die Evakuierung der Festenberger in die Wege zu leiten.
Wir verlassen den Unterring und gehen die Lange Gasse bis zur Totzki-Ecke. Hier müssen wir uns entscheiden, ob wir nach rechts in Richtung Goschütz, oder nach links in Richtung Groß-Graben gehen wollen. Gehen wir zunächst vorbei am Gräflich Reichenbachschen Schloß, das inmitten eines schönen Parks liegt. Hier wohnte von 1919 bis 1928 eine stadtbekannte Persönlichkeit, der Preußische Major a. D. Friedrich Wilhelm von Garnier. Er leitete als Direktor die Festenberger Holzindustrie-AG. Später übernahm er das Kyffhäuser-Waisenhaus in Kanth bei Breslau und wurde Präsident aller
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Das im Jahre 1945 völlig ausgeplünderte Schloß in Festenberg
Kyffhäuser-Wohlfahrtseinrichtungen. Nach dem Kriege ist er in Königstein im Taunus gestorben.
Vom Schloß aus ist es nicht mehr weit bis zum allseits beliebten "Judenberg" jener bewaldeten eiszeitlichen Sandmoräne am nordwestlichen Rande der Stadt, für Kinder ein Eldorado zum Spielen, Tollen und Toben. Hinzu kommt, daß der Hügel etwas Geheimnisvolles an sich hatte, denn oben lag der jüdische Friedhof mit den seltsamen, schlanken Granitgrabsteinen und den fremdartigen hebräischen Schriftzeichen. An einer Ecke des Friedhofs stand das "Schaber-Häuschen", ein kleiner Schuppen aus Holz auf einem massiven Sockel. Er barg die Bahre und liturgisches Bestattungsgerät. Den Namen Schaberhäuschen konnte niemand deuten. Für diesen Bericht bemühte ich einen Professor für semitische Sprachen, aber auch er wußte keine Deutung. Ich vermute, daß es sich dabei um die Verballhornung einer hebräischen Bezeichnung gehandelt hat. Diese Erscheinung gab es in Schlesien häufig. So wunderte ich mich immer über die Redewendung "abgemacht - Seefe". Im Studium konnte ich feststellen: als die Franzosen in Schlesien waren, beendeten sie ihre Vertragsabschlüsse und Käufe mit einem Handschlag und sagten dazu "cest fait", gesprochen ze fä, was soviel bedeutet wie "in Ordnung". Und das war für die Schlesier im breiten Dialekt eben "abgemacht - Seefe".
Wie ist es zu erklären, daß Festenberg früher eine so starke jüdische Gemeinde gehabt hat?
In der Mitte des 17. Jahrhunderts mußten viele Juden aus Polen flüchten. Friedrich der Große förderte ihre Ansiedlung und zahlte den Gemeinden, die sie aufnahmen, sogar 12 Thaler je Person. - Die Juden waren vorwiegend im Tuchvertrieb tätig, einige waren auch umherziehende Musiker mit Wohnsitz in Festenberg. 1812 gab es in Festenberg 49 jüdische Familien mit insgesamt 217 Mitgliedern. Sie hatten eine eigene Schule mit zwei Lehrern. 1845 ging die Zahl auf 160 zurück, so daß die Schule aufgelöst werden mußte. Die Kinder wurden in die deutschen Schulen aufgenommen. Eine Synagoge hat es in Festenberg nie gegeben. Man behalf sich mit einem gemieteten Betsaal.

Wir erinnern uns vieler Namen, etwa an das Textilhaus Brinnitzer oder an den "Juden Heimann", der in der Nähe des Schweinemarktes einen Pferdehandel betrieb. Seiner Frau verdanke ich, daß ich nach Breslau auf Gymnasium kam, denn immer wieder animierte sie meine Mutter dazu mit dem Hinweis auf ihren Sohn Axel, der zu dieser Zeit bereits in Breslau Medizin studierte. Dr. Axel Heimann richtete sich neben der Hansohm-Villa eine Praxis ein, ging aber schon 1932 in Vorahnung schlimmer Zeiten nach Israel, wo er allerdings nicht als Arzt tätig sein konnte, sondern in der Nähe von Tel Aviv Bauer wurde und geblieben ist.

Das Verhältnis der Festenberger zu ihren jüdischen Mitbürgern möchte ich mit wohlwollend-distanziert bezeichnen. Natürlich ist der Trend jener Zeit nicht zu leugnen, Aktionen gegen die Juden sind meines Wissens aber nie von Festenbergern selbst ausgegangen. Vom Judenberg aus wollen wir wieder zurück zur Totzki-Ecke und bis zur evangelischen Kapelle gehen, um dort unsere Wanderung durchs Städtchen zu beenden. Zwar könnten wir die Straße nach Goschütz weitergehen, aber über den Sportplatz und das Schützenhaus wird noch an anderer Stelle zu berichten sein.
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Festenberg. Ev. Kapelle an der Goschützer Straße, Innenansicht.

Wenn wir nach rechts schauen, sehen wir auf einer kleinen Anhöhe eine der kleinsten Kirchen des Kreises Groß Wartenberg, die evangelische Kapelle. Stufen führen zu ihr hinauf, zu einem Fachwerkbau von besonders schöner Gliederung. Umrahmt wird die Kapelle von hohen Kastanienbäumen. Wenn sie in Blüte stehen, sieht es so aus, als hätten auch sie Kerzen zum Lobe eines Höheren angezündet. An dieser Stelle stand früher einmal eine viel größere Kirche, die der heiligen Dreifaltigkeit geweiht war. Im Laufe der Zeit wurde sie immer baufälliger. Inzwischen war die auf dem Oberring erbaute Kirche abgebrannt und neu gebaut worden. So hat man 1877 die "untere Kirche" abgebrochen und mit ihrem noch verwertbaren Material diese Kapelle erbaut. Das künstlerisch überaus wertvolle Inventar der alten Kirche wurde übernommen: ein reich geschnitzter Altar, über dem ein riesiges Kruzifix aufragte, an den Seiten je eine Apostelgestalt und eine Kanzel mit geschnitzten Darstellungen aus dem Geschlecht derer von Köckeritz. Kein Wunder, daß diese Kostbarkeiten unter der besonderen Fürsorge des Provinzialkonservators der schlesischen Kunstdenkmäler standen. Immer wieder kann man beobachten, daß kleine Gotteshäuser eine besondere Atmosphäre der Besinnlichkeit schaffen und daher besonders beliebt sind. So erklärt es sich, daß die "Montagfrühgebete", die nach alten liturgischen Vorbildern gehalten wurden, sich eines regen Zuspruchs erfreuten.

Zum Gebet gerufen wurden die Gläubigen von einer über 300 Jahre alten Glocke, der ein seltsames Schicksal widerfuhr. Während des zweiten Weltkrieges wurde sie vom Turm geholt und sollte eingeschmolzen werden. Doch es kam nicht mehr dazu. Sieben Jahre nach dem Ende des Krieges bekam Superintendent Blech, der zu jener Zeit in Parensen, Kreis Göttingen, amtierte, vom Hamburger Glockenfriedhof die Mitteilung, daß sich dort eine ehemalige Festenberger Glocke befände. Die Gemeinde Parensen hatte von zwei Glokken eine abgeben müssen, die vermutlich eingeschmolzen worden ist. Nun war man hocherfreut, die ehemalige Festenberger Glocke zu bekommen. Würden sie aber klanglich zusammenpassen? Man kann die Freude nachempfinden, als das Probeläuten eine klangreine Harmonie ergab. Bei der feierlichen übernahme der Glocke am 30. März 1952 in Parensen waren auch einige Festenberger zugegen. Wie mögen sie gespalten gewesen sein in Freude und Wehmut. Superintendent Blech bekannte damals: "Meiner Frau und mir ist es ein tröstlicher Gedanke, daß diese Festenberger Glocke in einer Kirche läutet, in der auf einer Gedächtnistafel auch die Namen unserer beiden gefallenen Söhne stehen."
Auch die katholische Gemeinde hatte ihre "Kapelle", eine kleine Filialkirche in Groß-Schönwald. Als 1888 in Festenberg eine eigene katholische Gemeinde gegründet wurde, ordnete man ihr auch Groß-Schönwald zu, das bis dahin zur Kirchgemeinde Rudelsdorf gehört hatte. Die Holzkirche ist um 1780 erbaut worden. Daß sie früher den Aposteln Petrus und Paulus gewidmet war, zeigen erneuerte Altarbilder. Später wurde sie als Kirche des Heiligen Aegidius geführt. Sein Bild, ein Einsiedler, bei dem eine Hirschkuh Schutz sucht, ziert die Decke. - Interessant ist, daß der Kronleuchter, der nachweislich erst 1844 gestiftet worden ist, noch den österreichischen Doppeladler trägt. Nur einmal im Jahr war in dieser Kirche Gottesdienst, jeweils am ersten Sonntag im September, am St. Aegidiustag. Das war für uns Meßdiener ein ganz besonderer Tag, konnten wir doch mit dem Herrn Pfarrer in der Kutsche fahren. Und da war noch die Sache mit den Hähnchen. Der Heilige Aegidius galt als Schutzpatron des Viehs. Es war Brauch, daß die Bauern an diesem Tage. Hühnchen und Hähnchen mitbrachten und opferten, d. h. sie steckten sie in einen Verschlag unter der Treppe zum Patronatschor. Da aber der liebe Gott anscheinend keine Hühnersuppe mag, fiel das geopferte Federvieh dem Herrn Pfarrer zu. Wenn sich die Gläubigen nach dem Gottesdienst zerstreut hatten, ging für uns das lustige Fangen los. Die Beute wurde in einen großen Sack gesteckt und in der Kutsche verstaut. Je nachdem es die "Pfarr-Marie" gestattete, bekamen auch wir Meßdiener etwas davon ab.

Festenbergs Schulen

Festenberg hatte eine evangelische und eine katholische Volksschule. Die Lehrlinge erhielten lange Zeit ihren "Fortbildungsunterricht" im Gebäude der alten evangelischen Schule. Nach deren Neubau belegte die Gewerbliche Berufsschule den Altbau. Weiterführende Schulen mußten in Breslau oder Oels besucht werden. Die Festenberger Mittelschule wurde 1924 gegründet. Man machte das ehemalige Haus des Vorschußvereins notdürftig für den Schulbetrieb zurecht. Der Schule fehlte es so gut wie an allem. Es gab keine Spezialräume. Die Ausstattung mit Lehrmitteln war kümmerlich,
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Festenberg. Mittelschule. Abgangsklasse Jg. 1916/17. (Rektor Ernst, Lehrer Ronge, Krüger, Frl.Baranowski, Frl. Lipinski)
Abb. : verständlich, wenn man an die wirtschaftliche Lage der Stadt in jener Zeit denkt. Ich habe damals den Idealismus der Lehrer bewundert und war erstaunt, welche Leistungen trotzdem erbracht wurden. Ich konnte das an der Entwicklung meiner jüngeren Geschwister beobachten, die beide die Mittelschule besuchten. Als die wirtschaftliche Lage sich besserte (1938) und die Stadt willens und in der Lage war, für ihre Mittelschule mehr zu tun, machte das Verbot aller nicht kriegswichtigen Bauten diesen Plänen ein Ende. Die Zusammenarbeit von Eltern, Lehrern und Schülern war vorbildlich. Auf dieser Basis organisierte die Schule Museums- und Opernfahrten nach Breslau und Wanderfahrten ins Riesengebirge. Aber was das Wichtigste ist: die Schule vermittelte ihren Schülern einen guten Start ins Berufsleben, in dem es einige von ihnen zu beachtlichen Erfolgen gebracht haben. Schon 1928 wurde die Schule nach mehreren Revisionen als "vollausgebaute Anstalt" anerkannt und durfte das Zeugnis der mittleren Reife ausstellen. Sie war damals die kleinste Mittelschule Preußens und Rektor Ernst der jüngste Mittelschulrektor. - In den letzten Jahren vor dem Krieg stieg die Schülerzahl stark an und man mußte sogar Schichtunterricht erteilen. Die Lehrkräfte dieser Schule, Frl. Baranowski, Frl. Linde, Frl. Bley und die Herren Krüger, Pohl, Lahsar, Schmidt und Voßberg sind den Schülern in guter Erinnerung geblieben. - Herr Rektor Ernst mußte nach dem Kriege und nach Jahren fremdberuflicher Arbeit seine Lehrerlaufbahn in Leonberg bei Stuttgart noch einmal von vorn beginnen. 1954 wurde dort auf Drängen der Heimatvertriebenen eine Mittelschulklasse eingerichtet und deren Fortentwicklung Herrn Ernst übertragen. Der Andrang war so groß, daß aus dieser ersten Klasse in wenigen Jahren eine zweizügige Mittelschule mit 450 Schülern in 12 Klassen entstanden ist ... und Herr Ernst 1961 zum zweiten Male zum Mittelschulrektor ernannt worden ist. Mitte 1964 trat er in den Ruhestand. Er erhielt 1965 die goldene Ehrennadel der Landsmannschaft Schlesien. Bei den Gemeindewahlen der Stadt wurde er 1965 zum dritten Male als Vertreter der Heimatvertriebenen in den Gemeinderat gewählt, dem er bereits seit 12 Jahren angehört hatte.

Die Festenberger waren gesellige Leute

Jede kleine Stadt hat ihre Vereine. Es wäre aber falsch, wollte man sie an der Zahl messen, man muß das Leben sehen, das in ihnen herrscht. In den Vereinen Festenbergs war pulsierendes Leben, sicher als Ausgleich zu der schweren Arbeit, die geleistet werden mußte.
Das Leben in den konfessionellen Vereinen richtete sich nach den Kriterien ihres Selbstverständnisses und wurde von der öffentlichkeit weniger wahrgenommen. Erinnern wir uns daher an einige wenige repräsentative.
Zu den ältesten Vereinen zählte die Schützengilde. über ihr Gründungsjahr ist nichts bekannt. - Bis zum Ersten Weltkriege fühlten sich die Schützen recht elitär, denn es wurden nur "ortsansässige, unbescholtene, selbständige Handwerksmeister, Geschäftsinhaber und Herren in leitender Stellung aufgenommen". Protektor war Graf Heinrich von Reichenbach, Goschütz.
Nach dem Ersten Weltkriege wurden diese Bestimmungen gelockert. Jetzt durften auch Land- und Gastwirte sowie Beamte und Förster Mitglied werden. Im Jahre 1925 war Kaufmann Paul Peltz Kommandant der Gilde. Sein Nachfolger wurde der Bahnhofswirt Wilhelm Sommerkorn. Bis 1945 leitete Tischlermeister Robert Kutsche die Gilde. Zu dieser Zeit waren Ernst Horn Hauptmann und Otto Pohl Leutnant. Schießmeister war Alois Hippe, Zahlmeister Paul Surek und Schriftführer Wilhelm Wittenburg. Das erste Schießen fand stets im März, am Geburtstag des Grafen Reichenbach statt, bei dem er meistens anwesend war. Im April folgte das Anschießen und den ganzen Sommer über wurde montags das Lagenschießen geschossen.
Höhepunkt des Jahres für Schützen und wohl auch für die Festenberger war das Schützenfest. Es wurde traditionell in der zweiten Julihälfte gefeiert, gleich drei Tage lang! Jährlich wurde ein König sowie ein erster und ein zweiter Ritter ausgeschossen. Der Scheibenstand war 120 Meter von der Schießhalle entfernt. Im Unterstand waltete Schneider Appelt, das "Schießmännel" seines Amtes. Mit roter Jacke und Anzeigenkelle marschierte er als erster im Festzug. Nach ihm kam der Schellenbaum. Zu diesem Festenberger Volksfest gehörte der Rummelplatz genau so dazu wie das morgendliche Wecken mit der Melodie "Freut euch des Lebens!" Abends wurde im Schützenhaussaal das Tanzbein geschwungen, bis der Zug den neuen König nach Hause geleitete. Dort endete der Tag meistens mit einem Feuerwerk.
Als einmal ein Tischlermeister König geworden war, von dem man wußte, daß er gerne einen über den Durst trank und "sein Volk" ihn noch einmal sehen wollte, kam er zunächst nicht ans Fenster, seines Hauses, das von Fackeln und bengalischem Feuer hell erleuchtet war. Und noch immer ließ er auf sich warten. Da rief ein Festenberger "Steht er noch? " Das Volk brüllte vor Lachen und ... wie um zu beweisen, daß er noch stehen könne, kam der König doch noch mal ans offene Fenster. Doch keinem ist entgangen, daß er sein Stehen lediglich den kräftig unterstützenden Armen seiner Ritter verdankte.

Der MTV - Festenberg

Abb. 55
Der MTV Festenberg mit der Turnerfahne
Er wurde im Jahre 1862 gegründet, aber es vergingen noch fast 30 Jahre, bis der Männerturnverein eine eigene Turnhalle einweihen konnte. Um sie hat sich der Rechtskonsolent Thiel besonders verdient gemacht. Er schenkte seinem Verein zum Bau der Turnhalle Grund und Boden. Man ehrte in später dadurch, daß man sein Bild, zusammen mit anderen Vorstandsmitgliedern fotografiert, in der Turnhalle aufhing. - Als Vereinslokal wählte man die "Krone" am Unterring. Bekannte Turner zur Zeit des 50jährigen Bestehens (1912) waren: Swoboda, Weigelt, Plischke, John, Wende, Paul Klar und August Stiller.
Im Jahre 1914 war das Gauturnfest in Groß Wartenberg. Der MTV gehörte zu den erfolgreichsten Vereinen dieses Wettbewerbs. Dann kam der erste Weltkrieg. Die Turner standen an der Front, viele von ihnen sind gefallen. Während des Krieges diente die Turnhalle als Getreidespeicher. Als der Turnbetrieb wieder aufgenommen werden konnte, gründete man auch eine Frauenabteilung. Zum Frauenturnwart wurde Turnbruder Otte bestimmt, der sich seiner Aufgabe mit viel Geschick entledigte und sich überhaupt um den Verein große Verdienste erworben hat. Eine wichtige Rolle spielte der Spielmannszug, der bei allen Festen gern gesehen war. Beliebte Ziele der Turnmärsche waren Oels, Militsch, Neumittelwalde, Bukowine und besonders das Tanzlokal vom Kellner-Theo in Brodowze.
In den 30er Jahren wurde Wilhelm Sommerkorn zum Ehrenvorsitzenden ernannt. Ihm folgte Robert Anders als erster Vorsitzender, bis er dieses Amt an Plischke weitergab.

Der Männergesangverein "Liederkranz Festenberg"

Im Gasthof zum Einhorn probte regelmäßig sonnabends der MGV-Liederkranz, etwa 60 bis 80 Mitglieder stark. Oft schlich ich als Kind dorthin, um wenigstens für ein paar Minuten etwas von den schönen Liedern mitzubekommen, weil ich früh zu Bett mußte. Ganz besonders aber freute ich mich, wenn in der Nähe unseres Hauses ein Sangesbruder seinen Geburtstag hatte oder ein sonstiges Fest beging und der MGV ihm ein Morgenständchen brachte. Text und Melodie dieser Lieder waren mir schon recht geläufig, bevor ich eingeschult wurde. Vielleicht hat mich dieses Lauschen bewogen und befähigt, wenige Jahre später im Hohen Dom zu Breslau die Sopran-Solis zu singen. Besondere Verdienste um den Chor hat sich Kantor Pauly erworben. Höhepunkte im Vereinsleben waren die Fahrten zu den "Deutschen Sängerbundesfesten" und die Stiftungsfeste. Sie hatten in ihren musikalischen Darbietungen hohes künstlerisches Niveau und gehörten zu den Glanzpunkten des Festenberger Vereinslebens überhaupt. Wie gut aber war es, daß damals noch niemand ahnen konnte, welche Bedeutung einmal das so gern gesungene Lied für uns alle bekommen würde:

"Einzig will das Land ich preisen, dem mein ganzes Sehnen gilt!"



Der SC-Preußen

Im Jahre 1911 wurden in Festenberg zwei Sportclubs gegründet: der SC
Abb. 56
Einweihung des neuen Sportplatzes des SC "Preußen" 1911, an der Goschützer Straße (gegen Ende der 20er Jahre)
Preußen und der SC Germania. Zunächst spielten beide Vereine nebeneinander auf einem Gelände an der Bahnstrecke nach Bukowine, auf der sogenannten Fiedler-Brache. Dieses Gelände hatte Ziegelmeister Horn zur Verfügung gestellt. Ende des Jahres entschloß man sich vernünftigerweise zu einem Klub zusammen. Wenig später wurde bereits der Spielverkehr mit auswärtigen Vereinen aufgenommen.
1921 faßte man den Beschluß, für den Verein ein Banner anzuschaffen. Den Entwurf machte Max Böttger zusammen mit seiner Frau: auf der einen Seite ein Fußball, darüber die Schrift SC Preußen, darunter die Jahreszahl der Gründung 1911. Auf der anderen Seite war das Festenberger Wappen zu sehen, darunter der Schriftzug "Festenberg" und darüber 1921. Diese Jahreszahl sollte die Wiederaufnahme des Sportbetriebes nach dem ersten Weltkrieg andeuten.
Im Juni 1921 wurde das große Stiftungsfest gefeiert. Es gehörte zu den größten Festen, die je in Festenberg gefeiert worden sind. Es schloß bei Fackelschein am neu errichteten Ehrenmal für die im Ersten Weltkrieg Gefallenen. Bald lag Festenberg im Kreise Groß Wartenberg an führender Stelle im Sport. Eine gute Organisation und viele talentierte Mitglieder haben teil an diesem Erfolg.
Abb. 57
Fußballmannschaft des SC "Preußen" 1911 aus dem Jahre 1921/22.

Die Mitgliederzahl stieg ständig, so daß der alte Platz an der Bahnstrecke bald nicht mehr ausreichte. Da überließ Gastwirt Max Pink aus Muschlitz dem Klub ein Gelände an der Milde-Bleiche (Straße nach Goschütz). Viele der erforderlichen Arbeiten wurden von den Mitgliedern in ihrer Freizeit ausgeführt. Das Holz für die Einzäunung stellte die Zentralverwaltung von Reichenbach-Goschütz zur Verfügung. Bald konsolidierte sich der Verein auch finanziell, so daß es möglich wurde, Vereine aus entfernter liegenden Städten einzuladen. Die Klubverbindungen reichten über Oels bis Breslau und sogar nach Oberschlesien. Besonders beliebt waren die Fahrten zum VfB Glatz, nach Neiße, Strehlen und Schweidnitz. Wenn andere Vereine Festenbergs Ausflüge planten, mußten sie sich beeilen, denn oft waren die Busse von Baydel, Bunk, Kretschmer und Koehler für den SC Preußen bereits vorbestellt. Es ist schon erstaunlich, daß ein Kleinstadtklub im Schnitt mit 500 Zuschauern bei seinen Spielen rechnen konnte. Eine Art Lokal-Rivalität entwickelte sich mit Oels, wo zu dieser Zeit das neue schöne Stadion entstand, während man früher auf dem weniger schönen
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SC "Preußen" 1911, Festenberg mit dem Banner. Im dunklen Anzug vor dem Banner Willi Plener.
Exerzierplatz antreten mußte. Auch mit Goschütz entwickelten sich gute sportskameradschaftliche Beziehungen, obwohl die Kämpfe gegen die dortigen "Sportfreunde" besonders hart und leidenschaftlich ausgetragen wurden.

Aus dem Vorstand dieser Zeit werden Namen wie Max Müller, Rudolf Schirmacher, Max Sommerkorn, Rheinhold Röske, Paul Wuttke, Paul Geburek und Fritz Wuttke unvergessen bleiben. Ein so mitgliederstarker Verein (und bei den jungen Damen besonders beliebter) spielte im geselligen Leben der Stadt eine bedeutende Rolle. Die Regie solcher Feste lag lange Zeit in den Händen von Zahnarzt Alfred Scholz. Warum mag er wohl einen Beruf gewählt haben, der den Menschen wehe tut, wo er als Theaterregisseur sicher Größeres geleistet hätte ...
Abb. 59
Erfolgreiche Festenberger Fußballmannschaft

Ihm stand Sparkassenrendant Willy Jany kaum nach, wenn er pointiert und schlagfertig bei allen möglichen Anlässen des Vereinslebens seine Reden hielt. Karl Weigelt, der Chronist des Klubs, kennt noch eine Aufstellung aus den Jahren 1926/28: Weigelt, Röske G., Geburek H., Geburek R., Muß, Moch R. I., Geburek P., Moch F., Wuttke P., Moch R. II und Hoffmann.
Später wurden dem Klub noch eine Leichtathletik- und eine Tennisabteilung angegliedert. Obwohl hochtalentierte Mitglieder vorhanden waren, Gebr. Moch, Georg Stenzel, Georg Stein, Fritz Reich, Richard Wallusek u. a. fehlten wohl sachkundige Trainer und das stützende Interesse einer breiteren öffentlichkeit, so daß die Leichtathletik im Verein bald wieder zurückging.
Abb. 60
Robert Anders (+) an der Spitze des MTV Festenberg beim Antreten zum Festzug in Trebnitz vor der Preuß. Kreis- und Forstkasse (Leiter der Dienststelle war lange Jahre der Oberrentmeister Oskar Simon gebürtig aus Neumittelwalde).

ähnlich erging es der Tennisabteilung. Mit viel Elan hatte es der Verein geschafft, einen Tennisplatz anzulegen. Dr. med. Alex Heimann leitete die Abteilung. Eine kleine Gruppe trainierte eifrig und führte sogar Vergleichskämpfe mit auswärtigen Gegnern durch. Zu ihr gehörten Karl Krause, Maria Thomale und Margarete Moch. Trotzdem fehlte die Basis für diesen Sport, man blieb mehr oder weniger unter sich.

Ausflugsziele der Festenberger

Obwohl die Umgebung Festenbergs überall schön war, so haben sich bestimmte Ziele als besonders beliebt erwiesen. Dabei nahm Goschütz einen besonderen Rang ein. Schon der Spaziergang nach dort lohnte, vor allem, wenn man durchs "Gittel", einem kleinen Waldstück, etwas abgelegen, ging. In Goschütz konnte man das herrliche Gräflich Reichenbachsche Schloß bewundern und sich in seinem Park ergehen. Besonders beim "Goschützer Ablaß" war wohljeder zweite Besucher ein Festenberger. - Das Goschützer Schloß war durch einen schattigen Weg mit dem "Waldhaus" verbunden, einem barocken Jagdschlößchen. Für die Festenberger Vereine war es Tradition, besonders am Himmelfahrtstage zum Waldhaus zu pilgern. Wer nicht so weit gehen wollte, den zog es vorbei am Judenberg zu den Wescholker Eichen. Sie waren schon eine Sehenswürdigkeit, diese mächtigen Stämme mit den breit ausladenden Baumkronen.
Abb. 61
Die Wescholker Eichen
Drei bis vier Erwachsene konnten sie gerade noch mit ihren Armen umschließen. Daß sie über 1000 Jahre alt gewesen sein sollen, halte ich für eine ehrfürchtige übertreibung.
Der Vogelfreund ging zu den Seen bei Brustawe, einem selten gewordenen Vogelparadies.
In wenigen Minuten war der Himmelfahrtsberg zu erreichen. Ich habe nie mehr so wohlschmeckendes Wasser getrunken wie aus seinen Quellen. Schade, daß der schöne Brauch des Johannisfeuers allmählich eingeschlafen ist.
Die tanzlustige Jugend bevorzugte den Spaziergang durch den Festenberger Wald nach Brodowze (Graben-furt). Dort war ein Tanzsaal, zu dem jenseits der Straße eine Gartenwirtschaft gehörte. Sie grenzte an den Teich einer alten, noch funktionsfähigen Wassermühle. Es saß sich gut dort unter den schattigen Bäumen, auch wenn einem die Mücken des Teiches zu schaffen machten. Im Saal aber wurde kräftig das Tanzbein geschwungen. Am Klavier saß der Wirt höchstpersönlich, der Kellner-Teebuld (Theobald). Er war ein kleines musikalisches Genie, hatte nie Klavierunterricht bekommen und spielte ohne Noten. Allerdings, seine Kunst definierte er einmal so: "Ich krieg a jedes Klavier kaputt!" Sein Bruder, ebenfalls musikalisch begabt, war der Besitzer jener Wassermühle, ein Ausbund von Häßlichkeit mit Ohren wie Windmühlenflügel. Verständlich, daß er Junggeselle geblieben ist. Als man aber einmal munkeln hörte, er würde sich für eine Dorfschöne interessieren und man ihn deshalb befragte, winkte er lässig ab und sagte: "Die hat mir zu große Fisse!"
Mit Brodowze verbindet mich noch eine persönliche Erinnerung. Mein Schwiegervater, den ich hoch verehrt habe, Paul Bumbke, Sohn des Festenberger Schuhmachermeisters Josef Bumbke, hatte eine den Festenbergern recht fremde Eigenschaft: er trank keinen Tropfen Alkohol. Vermutlich hat folgendes Kindheitserlebnis dazu beigetragen.
Als noch nicht schulpflichtiges Kind war er mit seinen Eltern zu jener Gaststätte spaziert. Die Besitzer waren Verwandte. In Brodowze war es üblich, daß man seine Getränke selber an der Theke holte, wenn man jenseits der Straße im Garten saß. Der kleine Paul sah nun, wie die Erwachsenen tranken. Ihm hatte man nur ein Stück Streuselkuchen in die Hand gedrückt ohne etwas zum Trinken. Also ging er an die Theke zum Onkel Theobald und verlangte eine Flasche Doppel-Wacholder. Arglos gab der ihm das Gewünschte in der Annahme, der Kleine solle die Flasche für die Eltern holen. Paulchen aber verbarg die Flasche unter seinem Samtjäckchen und rannte in ein Roggenfeld. Dort trank er die Flasche zur Hälfte aus. Nach zunächst erfolgloser Suche fand man ihn am nächsten Morgen mit einer schweren Alkoholvergiftung.

Ein Exportartikel nach Amerika - made in Festenberg

Als Kind schimpfte ich wie ein Rohrspatz - leise in mich hinein, denn wir wurden ja noch "autoritär" erzogen -, wenn andere Kinder draußen spielen durften und ich Nadel und Faden in die Hand gedrückt bekam, um aus einem Teller winzige bunte Perlen nach einem vorliegenden Muster aufzufädeln. Auf einer Art Millimeterpapier waren Zeichen eingetragen, die bestimmten Farben entsprachen. Diese Perlenfäden haben die Frauen zu allen möglichen Dingen verhäkelt: Geldbeutel, Pompadours, überzüge für Parfümfläschchen, Handtaschen mit Bügel sowie Deckchen in allen Größen und Formen. Die Qual meines Stillsitzens und mühevollen Fädelns dauerte nur kurze Zeit, dann hatte meine Mutter wohl eingesehen, daß meine und ihre Feierabendarbeit zu gering bezahlt wurde, denn der Arbeitslohn für ein gehäkeltes Portemonnai betrug damals (Erster Weltkrieg) etwa 30 Pfennige!! über viele Jahre haben ganze Familien sich mit dieser Heimarbeit eine Nebenerwerbsquelle erschlossen. Die Ausgabe des Materials wie Seide, Garn, Perlen und Muster erfolgte bei der Frau des Tischlermeisters Heilmann, die eine Berliner Firma vertrat. Dort wurden die fertigen Produkte auch abgeliefert und der Lohn kassiert. Ab 1919 übernahm Frau Hering die Abwicklung bis etwa 1932. Zeitweilig waren über 200 Heimarbeiterinnen beschäftigt und Tausende solcher Gebilde fanden in den USA reißenden Absatz. Es konnte also durchaus sein, daß solche Festenberger Produkte von ihren amerikanischen Besitzerinnen auf dem Broadway stolz zur Schau getragen wurden. «
Abb. 62
Männergesangverein "Liederkranz"
Untere Sitzreihe von links nach rechts: Georg Schwarzer, Hugo Zech, Oskar Schwerin, Alfred Hiller, Rudolf Wahlstadt, Otto Grellert, Hugo Wuttke, Otto Wuttke, Heinrich Thorenz, Kantor Pauli, Heinrich Gallasch, Karl Reisner, Artur Krause, Karl Zech, Reinhold Frost, Schillheim (Vater), Schillheim (Bauer), Hermann Görlitz.
Zweite Reihe: Max Sommerkorn, Fritz Feniger, Heinrich Gallasch jun., Otto Stahr, Paul Weigelt, Hugo Zuschke, Richard Schwefel, Karl Hering, Robert Lorenz, Karl Stahr, Fritz Schmalsch, Otto Leuschner, Hermann Barth, Hermann Pfeiffer, Karl Karsubke, Waldemar Mundry, Oskar Fritsch, Broda, Paul Schillheim.
Dritte Reihe: Groß, Kurt Schmalsch, Jäkel, Kirmiß, Dugas, Jänsch, Fuchs, Nawroth, Fuchs, Paul Schwefel, Moch, Robert Kolbe, Fritz Flache, Kleinert, Hering, Alfred Geburek, Herbert Wahlstadt, Stahr.
Obere Reihe: Makiot, unbekannt, unbekannt, Bayer, Kurzer, unbekannt, Pfeifer, Pauli, Kolbe, Wahlstadt, Fritz Wuttke, Rudolf Schmalsch, Guhra, Fritz Bartsch, Georg Wuttke, unbekannt, Wuttke, Herbert Thorenz, Schikore.


Festenberger Originale

Ein Bericht über Festenberg wäre unvollständig, wollte man nicht wenigstens kurz die Originale erwähnen, die es dort gab. Damit sind nicht solche gemeint, die gelegentlich durch irgendwelche Aktionen auffielen wie etwa Adolf Pischzur, der gerne auf dem Rummelplatz (Schweinemarkt) als Frau verkleidet erschien in Unterhosen mit Spitzen aus Großmutters Zeiten, sondern diejenigen, die anders als andere ihr Leben lebten oder eben zeitlebens von einem besonderen "Tick" befallen waren. Zwei von ihnen möchte ich herausgreifen...
Die Pfarr-Marie, die Betreuerin von Pfarrer Josef Schneider, war wohl nur den Katholiken bekannt. Sie lebte unter dem Tick, übermorgen müsse die Welt untergehn!! Wie oft nahm sie mich beiseite und deutete mir geheimnisvoll alle möglichen Erscheinungen als Anzeichen dafür, daß "übermorgen" die Welt untergehen würde: die Sonne hätte nur noch blaues Licht, in der Brotrinde hätte sie ein Kreuz gesehen, in der letzten Nacht hätten Engel "im" Kirchturmkreuz gesungen und über das gerade erfundene Radio würden die Posaunen zum letzten Gericht rufen... usw... Wer so überzeugt vom Weltuntergang "übermorgen" ist, der holt für seinen Herrn Pfarrer auch erst fünf Minuten vor dem Mittagessen einen gesalzenen Hering. Als meine Mutter dahintergekommen war, verkaufte sie der Pfarrwirtin von da ab natürlich einen besonders ausgesuchten und schon tags zuvor gewässerten Hering...
Das stadtbekannteste Original war wohl der "Locken-Klose". Er trug bis auf die Schultern fallendes Haar, offenen Schillerkragen, kurze Hosen und schritt barfuß einher. Ja, er ging nicht, er "schritt". Unter den Arm geklemmt hatte er meist einen Geigenkasten, denn er gab Geigenunterricht. Und weil er unbeweibt war (klar, denn er war ein glühender Verehrer Schopenhauers) erteilte er den Geigenunterricht in den Wohnungen seiner Schüler in der Hoffnung, nein, in der Gewißheit, anschließend zum Abendbrot eingeladen zu werden. Er bezeichnete sich selber als Atheisten, das hinderte ihn aber nicht, bei kirchlichen Hochfesten in der katholischen Kirche im Orchester die "erste Geige" zu spielen. Auch in die Christmesse kam er in den ersten Jahren barfuß, später aber hatte er wenigstens Sandalen an, womit bewiesen wäre, daß Weltanschauungen manchmal von den Realitäten umgekrempelt werden...

Witz und Schlagfertigkeit der Festenberger

Darüber ließe sich ein ganzes Heftchen zusammenstellen. Viel davon hat Konrad Kauka überliefert. Mit wieviel Phantasie haben die Lehrlinge ihre Meister und die Gesellen ihre Lehrlinge zum Beispiel in den April geschickt! Oft war der Witz geradezu makaber. So ist es doch einem Fleischermeister "zweimal" gelungen, mit tieftrauriger Miene einen Sarg für seine verstorbene Frau zu bestellen... Als man den Sarg lieferte, stand sie quicklebendig im Laden und verkaufte Fleischwaren. Für den aggressiven Witz der Festenberger sprechen auch die vielen Spitznamen wie Millionenschnicker, Hypothekenschuster, Schmiedebums, Christian Donnerwetter, Stoßärmel. Besonders nett fand ich immer "Spielschule" für die Destillation Mundry. Eine Kneipe, die nicht sonderlich viel Gäste hatte, hieß ".. zu den sechs Arschlöchern". Der Hang zur (nicht so gemeinten) Aggression äußerte sich auch in der Freude an Schimpfkanonaden, wie Kauka eine aufgezeichnet hat, die ihn selber betraf: "Der Konrad, der vollgefressene Hund, kann mich kreuzweise am Hobel blasen. Der Idiot soll sich um seinen Dreck kümmern. Wenn ich die elende Mistgurke erwische, schlage ich ihm den Schädel ab und laß ihn den Judenberg herunterkullern". Aber dann: "Komm, Du Saukerl, jetzt gehn wir zum Hering (Gaststätte) und saufen einen, Du Lärge. 'Köstlich auch die Schlagfertigkeit, die jener Lehrling bewies, der nachts von einem Polizisten angehalten werden sollte, weil sein Fahrrad unbeleuchtet war. Auf den barschen Ruf des Polizisten "Stehen bleiben!" rief er im Weiterfahren seelenruhig: "Ich nähm keen mit!"

Wie ich die Festenberger sehe

Dichter und Deuter haben das Wesen des Schlesiers zu ergründen versucht. Die tiefstgründige stammt vom schlesischen Dichter Hermann Stehr aus dem Jahre 1936. Nach der Vertreibung hat der Schriftsteller Bleisch in seinem Buch "Heitere Leute von Oder und Neiße" geschrieben:

"Der Schlesier ist heiteren Gemüts, Traurigkeit verachtend, von milder und zugleich strenger Gesinnung. Das hat der Hirschberger Vulturinus festgestellt, vor fast 500 Jahren. Und auch die ihm nachfolgten mit ihren Urteilen haben als auffallende Farbe auf der Palette schlesischen Wesens das Heitere notiert. Ob sie es nun gutmütig, gesellig, lebhaft, unternehmungslustig oder eifrig nannten, alle waren sich darin einig, daß eine lebenszugewandte Aufgeräumtheit ein Kardinalzug des schlesischen Charakters sei."

Das trifft für die Festenberger in gleicher Weise zu. Dennoch sehe ich einige Besonderheiten ausgeprägt. Die Festenberger waren ungemein fleißig, die Frauen besonders. Es scheint, als ob die Leistungen, die sie zur Zeit der Ostsiedlung erbringen mußten, noch nachwirken. Und wer sein Geld sauer genug verdient, der dreht den Pfennig zehnmal um, bevor er ihn ausgibt. Das schließt nicht aus, daß die Festenberger bei besonderen Anlässen auch kräftig auf die Pauke hauen konnten. Dann waren sie auch gesprächig, während sie sonst recht wortkarg bis maulfaul sein konnten. Hinzu kam eine Neigung zur Rechthaberei und zu einem gewissen Mißtrauen gegen Fremde. Freunde jedoch wurden bei ihnen mit herzlicher Gastfreundschaft bewirtet. Die Festenberger waren keineswegs "fromm" im landläufigen Sinne. Aber sie waren gläubig, wenn man darunter die Anerkenntnis höherer Bindungen versteht.
Ihre Kontaktfreudigkeit in der Heimat erklärt auch ihren guten Zusammenhalt in der Fremde. Es gibt viele Gruppen von Festenbergern im Bundesgebiet, eine der rührigsten ist die in Düsseldorf unter Leitung von Karl-Heinz Neumann. Ihm ist es in jahrelangem, zähen Bemühungen gelungen, daß die Stadt Düsseldorf 1973 eine Straße in "Festenberger Straße" umbenannt hat.
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Festenberg nach einer Abbildung aus der "Scenographia Urbium Silesiae" von Fr. Bernh. Werner (1690-1776). Das Original befindet sich in der Bayerischen Staatsbibliothek München.
Fleiß und Können haben auch dazu geführt, daß die Festenberger in ihrer neuen Heimat Achtung und Wertschätzung genießen. Hierfür möge der Nachruf zeugen, der nach dem Tode von Tischlermeister Robert Thomale in der Sigmaringer Zeitung erschienen ist und für ähnliche stehen soll:

Zum Tod von Robert Thomale

Die Bürgerschaft betrauert das Hinscheiden von Schreinermeister Robert Thomale, der als Flüchtling im Alter von 83 Jahren hier in der Heimat seiner Frau heimgegangen ist. Der Verstorbene war ein begnadeter Schreiner, ein Künstler seines Handwerks, dem es gegeben war, weit über den Gebrauchswert der Schreinerei zu stehen und sich nur künstlerischen Arbeiten zu widmen. Als er, schon siebzig, aus seiner Heimat Festenberg in Schlesien als Flüchtling nach Sigmaringen kam und bei der Kunstwerkstätte Marmon Arbeit fand, hätte er schon bald selber eine Kunstschreinerei anfangen können, so sehr verbreitete sich sein Ruf. Altem Mobilar, Kunstgegenständen aus Holz, Altären und Kirchenausstattungen wandte er seine besondere Liebe zu. - Nun ist mit ihm wieder einer jener Handwerker dahingegangen, die in unserem Zeitalter der Mechanisierung immer seltener werden."

Vor über zweitausend Jahren sagten die Angehörigen einer Weltmacht voll Stolz: Ich bin ein Römer! Laßt uns in unserer Ohnmacht ebenso stolz sagen: Wir sind Festenberger!

Quellenangabe: Groß Wartenberger Heimatblatt, Jahrg. 1958 bis 1973. Verlag Karl-Heinz Eisert, Schwäbisch Gmünd/Alfdorf.

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